Gerd Ruge: Unstillbar neugierig auf Menschen

Gerd Ruge hat den Zuschauern jahrzehntelang die Welt nähergebracht. Am Freitag wird er 85 Jahre alt.

München. „Und, wie ist das Leben so?“ — diese beiläufig gestellte Frage umreißt im Grunde das Arbeitsleben von Gerd Ruge, den man mit Fug und Recht als Fernsehlegende bezeichnen kann.

Er hatte in seinem Korrespondentenleben mehrfach das Glück, in historisch wichtigen Momenten an Ort und Stelle zu sein. Der Sohn eines Hamburger Arztes bekam 1955 mit, wie der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen aushandelte, er erlebte 1968 die Ermordung Martin Luther Kings in Memphis, er berichtete 1991 hautnah vom Putsch gegen Michail Gorbatschow in Moskau.

Die Politik bildet den Kern seiner Arbeit, bestimmt seine Sicht auf die Welt — 1961 gehörte er zu den Mitbegründern der deutschen Sektion von Amnesty International. Doch neben der Analyse politischer Entwicklungen sucht Gerd Ruge immer den direkten Kontakt zu Menschen, er will eine „persönliche, eine herzliche Ebene herstellen“.

Das gelang ihm in Moskau mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Boris Pasternak, in New York kutschierte er Joan Baez zu ihrem ersten Konzert. Als er in der russischen Hauptstadt mal im Endlosstau stand, ist er ausgestiegen und hat die Leute befragt — so weiß man, was sie wirklich denken.

Als er im Ruhestand ab 1993 die ARD-Reportagereihe „Gerd Ruge unterwegs“ zum Markenzeichen machte, hat er mit Rentierhirten in Jakutien die halbe Nacht bei Nudelsuppe im Zelt gesessen, er ist mit russischen Dorffunktionären in die Sauna gegangen, er hat im Basar von Kabul mit Jugendlichen ein Eis gegessen und sich später mit Steinen bewerfen lassen.

Ob Sibirien, China, Afrika oder die USA: Ruge stellte die einfachen und zugleich entscheidenden Fragen. Ob das Geld reicht, wo sie etwas zu essen und zu heizen herbekommen, besonders gern scherzt er mit Mütterchen über den Gartenzaun. Jahrzehntelang hat er den Fernsehzuschauern die Welt näher gebracht und blieb dabei bemerkenswert uneitel, bescheinigt sich selbst „eine gewisse bohèmehafte Wurstigkeit des Auftretens“, ließ auch vom Nuscheln nie ab: „Ich finde, wenn man zu deutlich spricht, hat das so etwas Lehrerhaftes.“

Wie schnell vermeintliche Analysen heute über die Sender herausgepustet werden, erfüllt ihn mit Sorge. Während er sich in seinen Beiträgen zurücknahm, ärgert ihn die ungenierte Selbstdarstellung von heute: „Manche der Reporter und Korrespondentinnen sehen Sie von Anfang an in jedem Bericht. Sie gehen ständig durchs Bild und heben einen Korb Wäsche oder eine Schaufel hoch. Warum? Das ist sinnlos. Sie glauben ihrer eigenen Strahlkraft mehr als der ihres Berichts“, sagte er dem „Spiegel“.

Für den WDR ist er endgültig nicht mehr unterwegs, sein Haussender räumt ihm zu diesem Geburtstag auch keine TV-Sendezeit ein. Morgen wird Gerd Ruge 85 Jahre alt, aber aufbrechen würde er sofort wieder, am liebsten nach China.

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