Schauspieler Edgar Selge: „Moral hat mich nie interessiert“

Edgar Selge über seine Rolle als böser Wolf, Rituale der Familie zu Weihnachten und „Stille Nacht“ im Jugendknast.

Berlin. Sie gehören zu Weihnachten wie das Lametta zum Baum: Märchenfilme, die das Erste an den Feiertagen zeigt. Dieses Jahr stehen vier Neuverfilmungen auf dem Programm. Den Auftakt macht „Rotkäppchen“ (25. Dezember, 15.40 Uhr) mit Charakterdarsteller Edgar Selge in der Rolle des bösen Wolfs.

Herr Selge, Sie spielen den bösen Wolf. Hatten Sie als Kind Angst vor der Figur?

Edgar Selge: Ich hatte Angst vor Hunden, weniger vor dem Wolf. „Rotkäppchen“ war nicht mein Lieblingsmärchen, meine bevorzugten Märchen waren andere.

Welche denn?

Selge: Mit den Märchen ist es wie mit anderen Dingen auch — zu verschiedenen Zeiten im Leben ändern sich die Interessen. Als Kind mochte ich den „Eisenhans“ besonders gern. Der saß in einem Käfig, wurde vom Königssohn befreit und nahm ihn mit in den Wald. Das fand ich aufregend, darin steckte für mich die Attraktivität des Erwachsenwerdens und gleichzeitig die Angst davor. Heute dagegen schlage ich immer erst das Märchen über die Blutwurst und die Leberwurst auf, seit ich als Erwachsener davon gehört habe.

Was hat Sie nun an der Rolle als Wolf gereizt?

Selge: Ich bekam zunächst eine Anfrage: Die Drehbuchautoren wollten wissen, ob ich gerne den räudigen Wolf spielen würde, weil sie der Ansicht waren, dass das so gut zu mir passt, dass sie mir die Rolle gerne auf den Leib schreiben wollten. Das fand ich sehr lustig.

Heute denkt man bei bösen Tieren eher an Finanzhaie und Heuschrecken. Was symbolisiert der Wolf heute?

Selge: Der böse Wolf steht für eine existentielle Bedrohung, die jedes Kind fühlt, schon allein wegen seiner geringen Größe und der Unberechenbarkeit von Erwachsenen, die ihre Interessen verbergen, nicht so offen sind, wie es Kinder vielleicht brauchen. Märchen sind dazu da, diese Erfahrungen von Angst aufzugreifen und zu einem guten Ende zu führen. Damit geben sie dem Kind die Möglichkeit, mit Gefährdungen gelassen umzugehen.

Früher war die Moral von „Rotkäppchen“: Höre auf deine Eltern. Und heute?

Selge: Die Moral von der Geschicht’ hat mich nie sonderlich interessiert. Generell werden in Märchen gefahrvolle Situationen mit verschiedenen Figuren durchgespielt. Da gibt es Menschen, die klug, naiv oder gelassen mit der Situation umgehen und sie letztlich zu einem guten Ende führen. Andere sind zu stürmisch oder zu grob, und denen glückt es nicht, sich zu schützen.

Feiert eine Künstlerfamilie wie die Ihre auf andere Art Weihnachten, als sonst üblich?

Selge: Ich weiß ja nicht, wie es in anderen Familien läuft. Bei uns ist Weihnachten das Fest, wo wir uns zuverlässig alle miteinander sehen, und die Kinder, die ja schon längere Zeit außer Haus sind, heimkommen. Wir kochen gemeinsam und haben uns viel zu erzählen, wir spielen miteinander, zum Beispiel Doppelkopf, aber wir lesen auch mal Theaterstücke mit verteilten Rollen.

Vielleicht liest ja Ihr Schwiegervater Martin Walser die Weihnachtsgeschichte?

Selge (lacht): Ich kann mir nicht vorstellen, dass Martin Walser in irgendeiner Familie sitzt und die Weihnachtsgeschichte vorliest, das ist unvorstellbar! Wir feiern auch nicht zusammen, er bleibt am Bodensee und wir in München. Es könnte sein, dass wir für einen Nachmittag zu Besuch hinfahren.

Welche Erinnerungen haben Sie an Weihnachten? Ihr Vater war Direktor eines Jugendgefängnisses.

Selge: Ich habe bis ich 17 oder 18 war jedes Weihnachten in der Justizvollzugsanstalt gefeiert, da gab es einen Gottesdienst mit Krippenspiel, Predigt und Liedern. Und wenn sie jemals 400 Strafgefangene „Stille Nacht, heilige Nacht“ haben singen hören, wenn die Eingesperrten mit einer Inbrunst ihren Gefühlen Luft machen — das vergessen Sie Ihr ganzes Leben nicht.

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