Mein Rock ist dein Rock - Kleidung als Gemeinschaftsgut

Hamburg (dpa) - Typisch Frau: Der Schrank ist voll, aber sie hat nichts zum Anziehen. Die anderen haben eben immer die schöneren Klamotten. Wer teilt, besitzt so am Ende vielleicht mehr.

Thekla Wilkening und Pola Fendel haben schon immer gegenseitig in ihren Kleiderschränken gestöbert. So konnten sie ihren Drang nach Neuem ausleben, ohne viel Geld ausgeben zu müssen. Dieses Freundschaftskonzept haben die Studentinnen aus Hamburg im vergangenen Herbst vermarktet: In der „Kleiderei“ können Mädels und Frauen Klamotten ausleihen. Keine teuren Ballkleider wie in den geläufigen Kostümverleihen, sondern ganz normale Fummel für den Alltag. Ihre Bilanz nach den ersten zwei Monaten: „Es werden immer mehr“ - Kunden und Kleider gleichermaßen.

Mit ihrer „Kleiderei“ liegen Thekla und Pola im Trend. Dieser Tausch-Trend heißt im Akademikerdeutsch kollaborative Ökonomie. „Es gibt seit Jahren die Beobachtung, dass auf Märkten immer mehr Güter getauscht und gemeinsam genutzt werden“, sagt Ludger Heidbrink. Der Leiter des Lehrstuhls für praktische Philosophie an der Universität Kiel beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema. „Kollaborative Ökonomie ist eine verstärkte Form der Zusammenarbeit.“ Wichtiger als der Besitz eines Gutes wird der Zugang zu diesem.

Sophie Utikal aus München folgt ebenfalls diesem Trend. Sie hat gemeinsam mit einer Freundin die Onlineplattform kleiderkreisel.de ins Leben gerufen. Dort können Mitglieder untereinander Klamotten tauschen oder verkaufen. „Wieso sollte man etwas neu produzieren lassen, wenn jemand anderes es schon besitzt?“, fragt die 25-Jährige. Das oft beschworene Konzept der Nachhaltigkeit spielt eine große Rolle bei der „Collaborative Consumption-Welle“, wie Sophie sie nennt. Auf ihr reiten auch Thekla und Pola. „Wir wollen einen Lösungsvorschlag gegen Überkonsumption bieten“, sagt Pola.

In die „Kleiderei“ kommen Kunden, die offen für die Idee sind, sich etwas zu leihen. Das kommt nicht für jeden infrage. „Es gibt Menschen, die die Sicherheit des Besitzes brauchen“, analysiert Thekla. Für sie bleibe der Besitz wichtiger als die Nutzung. Sophies Projekt ist eine Mischform aus altem und neuen Marktmodell: Zwar gibt es auf Kleiderkreisel auch nur Kleidung aus zweiter Hand, sie wechselt aber dauerhaft den Besitzer, nicht nur leihweise.

Für Heidbrink sagt der Trend zum Kleidertausch viel über Identitätssuche in der heutigen Gesellschaft aus. „Menschen haben sich viel stärker eine experimentelle Lebensform angewöhnt“, erklärt der Professor. „Sie haben heute nicht mehr eine stabile, festgelegte Identität, sondern eine hybride - sie kann sich ändern.“ Kleidung sei ein Vehikel dafür. „Menschen wollen sich häufig eher verkleiden als kleiden.“ Durch die Leihangebote lassen sich verschiedene Identitäten ausprobieren. Auch für Pola geht es um den Gedanken, unterschiedliche Stile auszuprobieren: Man traue sich mehr, „weil man es nicht kauft“.

Wer gern mit Identitäten spielt, dem ist neben dem Nachhaltigkeitsgedanken ein anderer Aspekt mindestens genauso wichtig: trendig sein. „Es ist auch eine soziale Frage“, erklärt Heidbrink. Wer bei der „Kleiderei“, dem Kleiderkreisel oder anderen Leih- und Tauschplattformen mitmacht, sei im Leihgemeinschafts-Club. „Man nimmt teil an einer avantgardistischen Art, Güter zu nutzen - das ist hip im Moment.“

Pola und Thekla sitzen schon an Erweiterungsplänen für die „Kleiderei“. Ein zweiter Laden in Berlin soll es sein. Und Sophie kann sich seit einem Jahr Vollzeit auf den Kleiderkreisel konzentrieren und von dem Projekt leben. „Ich glaube, dass es zunehmen wird“, meint Heidbrink. Immerhin sei das Leihgeschäft auch eine psychologische Entlastung - frei nach dem Motto: Simplify your life. „Je weniger du besitzt, desto freier fühlst du dich.“

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