Stuttgart 2015 Kirchentag: Die Bibel beim Wort nehmen

Christen ringen bei ihrem Treffen in Stuttgart um das rechte Schriftverständnis.

Die kleine Sarah trägt beim 35. Evangelischen Kirchentag ein Puzzleteil mit der Aufschrift "Vater vergib".

Die kleine Sarah trägt beim 35. Evangelischen Kirchentag ein Puzzleteil mit der Aufschrift "Vater vergib".

Foto: Marijan Murat

Stuttgart. Die Reibungspunkte von Glauben und Politik sind traditionell Thema auf Evangelischen Kirchentagen. Bundespräsident Joachim Gauck streitet am Donnerstag mit dem Soziologen Hartmut Rosa leidenschaftlich darüber, was Politik für unser Zusammenleben tun kann. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußert sich am Freitag zur Digitalisierung, Kofi Annan und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Samstag zu einer aus den Fugen geratenen Welt.

Aber gerade vor dem Hintergrund vieler religiös aufgeladener Konflikte bewegt eine alte Frage das Christentreffen neu: wie die Bibel eigentlich zu lesen und zu verstehen ist. Die Frage klingt banal. Aber an ihrer Beantwortung entscheidet sich, wie sich Christen zu gesellschaftlichen Themen positionieren: von den Rechten der Frauen über gleichgeschlechtliche Liebe bis zu Krieg und Frieden.

„Es gibt in der Auslegung der Schrift nicht die eine Wahrheit, erst recht keine, die sich im bloßen Zitieren biblischer Sätze oder Sprüche erwiese“, sagt der Bochumer Alttestamentler Jürgen Ebach bei der Veranstaltung „Auf der Schrift stehen“.

Dem steht ein spürbar wachsendes Bedürfnis von Christen gegenüber, in einer undurchschaubar globalisierten Welt wenigstens in ihrem Glauben Klarheit zu finden. Beim Christustag, der pietistischen Konkurrenzveranstaltung zum vermeintlich religiös verwässerten Kirchentag, findet diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit immer wieder Ausdruck.

„Die Schriften sind und bleiben Menschenwort, die zu Gottes Wort werden können“, hält die Wiener Theologin Eva Harasta allen fundamentalistischen Strömungen entgegen. Und sie bekennt sich klar zu den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens: „Christen stehen nicht allein auf der Schrift.“

Gerade das jüdische Prinzip, sich dem Sinn von Texten im Dialog anzunähern, könne dabei ein Weg sein, die Widersprüche der Bibel nicht nur auszuhalten, sondern als „vielstimmiges Zeugnis des gelebten Lebens“ (Ebach) wahrzunehmen. „Die Annahme des christlichen Fundamentalismus, wir hätten in der Bibel die eine von Gott gegebene, vom Heiligen Geist diktierte und irrtumslose Quelle und Norm christlichen Glaubens, beruht auf historischer Unkenntnis“, bekräftigt der Theologe Ulrich Körtner auf der Veranstaltung „Bibel, Fundament, Fundamentalismus“. Schriftauslegung sei damit „unvermeidlich plural“.

Fundamentalistisches Schriftverständnis, das zieht sich vom Judentum über das Christentum bis zum Islam, will in dieser Vielfalt nicht nur die Deutungshoheit zurückgewinnen. Es will auch die Schriften, deren Vielstimmigkeit ja gerade weltliche Machtansprüche unterläuft, wieder zum weltlichen Machtinstrument machen. Juden, Christen und Muslime, denen weiter am respektvollen Zusammenleben gelegen ist, müssen deshalb neu lernen, Glaubensvielfalt zu verteidigen und zu begründen.

Der Kirchentag in Stuttgart versucht genau das. Die Bibel beim Wort zu nehmen, so der Tenor der Veranstaltungen, heißt eben nicht, sie buchstäblich zu verstehen, sondern sich ihrem Geist anzunähern. „Die Mitte der Schrift“, sagt Harasta, „ist Gottes Heilswille.“

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