Esra-Urteil: Das Ende der Kunstfreiheit?

Autoren empören sich über das Verbot des Maxim-Biller-Romans. Der Streit um Fiktion und Wirklichkeit ist alt: Schon immer spielten Dichter mit realen Vorbildern.

Düsseldorf. "Dieses idiotische Schwein soll ich sein?" Jene Zeilen schrieb Gerhart Hauptmann an den Rand von Thomas Manns "Zauberberg", nachdem er sich selbst in der Figur des Mynheer Peeperkorn erkannt hatte. Damals bedurfte es nur eines versöhnlichen Briefwechsels und die Querele zwischen den Schriftstellern war vergessen. Wie würde es ausgehen, wenn sie sich heute vor Gericht begegnen würden? Schlecht für Thomas Mann - zumindest wenn man dem glaubt, was nach dem Esra-Urteil gesagt und geschrieben wurde.

Zur Erinnerung: Das Bundesverfassungsgericht hatte den autobiografisch gefärbten Roman "Esra" von Maxim Biller verboten, weil er das Persönlichkeitsrecht von Billers Ex-Freundin verletze. Die Begründung: Sie sei eindeutig als Esra zu erkennen, und der Roman schildere intime Details ihrer Liebesbeziehung. Die "Welt" sieht darin eine "totale Niederlage der Kunstfreiheit", Autoren sprechen von "Willkür", und die "Süddeutsche Zeitung" beschwört gar eine "neue Art der Zensur" herauf. Statt rotstiftschwingender Staatsdiener würden jetzt beleidigte Prozesshansel dem Künstler im Genick sitzen.

Das Esra-Verbot hat eine Diskussion darüber ausgelöst, wo die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verlaufen. "Das Urteil bedeutet in letzter Konsequenz das Ende der Fiktionalität", kritisiert Claudia Albert, Professorin für Germanistik an der Universität Leipzig. Die Karlsruher Richter hätten ihre Kompetenzen überschritten und sich als "Kunstrichter" aufgespielt. Denn in der Literaturwissenschaft gelte die Maxime: "Sobald etwas auf Papier gebannt ist, ist es Fiktion."

Groß ist der Aufschrei in den Feuilletons auch darüber, dass die Verfassungsrichter den Kunstgehalt eines Werkes mit einer wissenschaftlich anmutenden Formel bestimmen lassen wollen. Sie lautet, kurz gesagt: Je intimer oder vulgärer das Beschriebene, desto größer der Anspruch des Dargestellten auf Anonymisierung. Die "Je-desto"-Formel ist ohne Frage unbeholfen, zeigt aber auch: Es gibt keine eindeutigen Kriterien, was ein Roman darf und was nicht. Das Esra-Urteil wird demnach kaum zum Präzedenzfall werden.

Mit dem reflexartig eingeforderten Absolutheitsanspruch der Kunstfreiheit wird ignoriert, dass die Richter Biller gestatteten, die Mutter seiner Ex-Freundin erkennbar zu beschreiben und negativ zu überzeichnen. Da ging es auch nicht um intime Details. Marcel Reich-Ranicki hätte also auf der Basis des Esra-Urteils keine Chance gehabt, Martin Walser zu verklagen, der den Literaturpapst in seinem Roman "Tod eines Kritikers" symbolisch hinrichtete. Auch Theodor Fontane hätte seine "Frau Jenny Treibel" weiter nach einer Freundin seiner Schwester konzipieren dürfen. Und Fontane selbst müsste es weiter hinnehmen, von Günter Grass als Fonty in "Ein weites Feld" karikiert zu werden.

Der Aufschrei des Literaturbetriebs lässt zudem hoffen, dass die Befürchtung von Billers Verleger, Autoren würden sich von jetzt an aus Angst vor Prozessen selbst zensieren, unbegründet ist. Darin ist sich auch Joseph A. Kruse, Leiter des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Instituts, sicher: "Erst wundern sie sich, dann mokieren sie sich und dann verteidigen sie die Freiheit", sagt er über die Schriftsteller.

Unter der Gürtellinie Heinrich Heine war ein Meister der Satire, der gegenüber seinen Zeitgenossen nicht gerade zimperlich war. Über das Verhältnis der Madame Wohl zu seinem Konkurrenten Ludwig Börne etwa rätselte er, "ob sie seine Geliebte oder bloß seine Gattin war". Und über die Homosexualität von August Graf von Platen ließ sich Heine in den "Reisebildern" aus.

Tabubrüche Joseph A. Kruse, Leiter des Heine-Instituts, sagt: "Heine gefiel es, sich über damals tabuisierte Geschlechterverhältnisse lustig zu machen." Auch in der heutigen Zeit würde ihm das Probleme bereiten, glaubt Kruse: Nach dem Esra-Urteil könne man gleich "den halben Heine mitverbieten".

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