Germanist: Günter Grass spricht als Dichter

Heidelberg/Berlin (dpa) - Seine Kritik an Israels Atompolitik hat einen Sturm der Entrüstung gegen Literaturnobelpreisträger Günter Grass ausgelöst. Dabei wird auch die Frage diskutiert, ob es sich bei dem Text überhaupt um ein Gedicht oder eher um einen Prosatext handelt.

Für den Heidelberger Germanisten Helmuth Kiesel gibt es keinen Zweifel: Es ist ein Gedicht.

Grass habe die Gedichtform gewählt, um besondere Aufmerksamkeit zu erregen. „Er hätte auch einen Leitartikel schreiben können“, sagte Kiesel am Donnerstag der Nachrichtenagentur dpa. „Mit der Gedichtform wollte er jedoch verdeutlichen, dass hier nicht ein Leitartikler namens Grass, sondern der Dichter Günter Grass spricht, der anknüpft an seinen Rang als Schriftsteller, als Nobelpreisträger.“

Starre Kriterien wie metrische Regulierung, Reim und Strophenbau haben sich mit dem Sturm und Drang und seinen freien Rhythmen in Gedichten verloren. Im 19. Jahrhundert folgten Prosagedichte. „Zu den primären Merkmalen für ein Gedicht gehört seitdem der Flatterrand, also der vorzeitige Abbruch der Zeilen“, erklärte der Leiter des Germanistischen Seminars der Universität Heidelberg. Dieser diene dazu, bestimmte Wörter zu exponieren, einen Sinneinschnitt zu markieren oder einen Verfremdungseffekt zu erreichen. Eine Gedichtform, die Bert Brecht für seine antifaschistischen Gedichte stark genutzt hat.

„Seitdem hat diese Form gerade in politischen Angelegenheiten eine gewisse Tradition, man kann auch sagen Würde“, so Kiesel. „Daran versucht Grass anzuknüpfen - ob das gut ist oder nicht, ist eine andere Frage.“

Neben Autoren wie Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried habe auch Grass diese Form des Gedichts in der Vergangenheit oft gewählt - beispielsweise in Bezug auf den Vietnamkrieg. „Damals wurde das - bis auf wenige Ausnahmen - selbstverständlich als Gedicht akzeptiert“, meinte der Literaturwissenschaftler. Wenn dies nun anders gehandhabt werde, dann sei dies ein - durchaus legitimer - Versuch, dem von Grass erhobenen Anspruch auf dichterische Besonderheit oder Würde seiner Äußerung entgegenzutreten und sie auf die Ebene eines Leitartikels herabzustufen.

Gespräch: Marion van der Kraats, dpa

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