Ken Folletts Jahrhundertsaga: Geschichte wird gemacht

Düsseldorf. Ken Follett ist ein Unterhaltungsschriftsteller der Superlative und einer der erfolgreichsten Buchautoren aller Zeiten. Sein Ehrgeiz: Das 20. Jahrhundert in drei Bänden auf 3.000 Seiten.

Der zweite Teil ist soeben erschienen. „Winter der Welt“ ist ein auf Hochspannung angelegtes Gemisch aus Familiensaga und Geschichtsbuch. Der 63-jährige Autor beschreibt darin die hochdramatische Zeitspanne von 1933 bis 1949 aus deutscher, russischer, britischer und amerikanischer Sicht — Naziterror, schöne Frauen und selbstlose Helden inklusive.

Nach „Sturz der Titanen" präsentieren Sie mit „Winter der Welt" den zweiten Teil Ihrer Saga über das 20. Jahrhundert. Wie bereiten Sie sich auf solch ein extravagantes Projekt vor?

Ken Follett: Mit Lesen. Ich suche immer nach den Wendepunkten. Großen dramatischen Ereignissen, die den Lauf der Geschichte verändert haben. Anschließend denke ich darüber nach, wie meine Charaktere in die Ereignisse verwickelt sein könnten. Denn Geschichte wird ja von Menschen gemacht. Eines dieser bedeutenden Ereignisse ist der Reichstagbrand. Es gab Leute, die sind dort gerade spazieren gegangen und wurden so Zeugen der Geschichte. Und natürlich gab es den Brandstifter selbst. Ich finde eigentlich immer einen Weg, meine Charaktere in geschichtliche Ereignisse einzubinden.

Sie kennen den Zweiten Weltkrieg nur aus Büchern und Erzählungen. Gibt es in Ihrem Roman dennoch eine Figur, mit der Sie sich identifizieren?

Follett: Ich kann mich ein bisschen mit Lloyd Williams identifizieren. Er ist ein junger Waliser aus einfachen Verhältnissen, zuerst etwas naiv, aber er lernt schnell dazu. Im Moment des Schreibens fühle ich mich jung. Ich glaube, alle jungen Menschen sind sich auf bestimmte Weise ähnlich. Sie haben ein unglaubliches Selbstbewusstsein. Anders könnten sie gar nicht überleben. Aber mit den Jahren werden wir klüger und weniger arrogant.

Wie versetzen Sie sich in jemanden, der in den 1930ern und 1940ern gelebt hat?

Follett: Vor allem mit Hilfe meiner Phantasie. Die eigentliche Herausforderung bei solch einem Romanprojekt ist, sich in die Psyche und in die Seele der damals lebenden Personen hineinzuversetzen. Natürlich brauche ich dazu auch Fakten. So muss ich wissen, welche Kleidung man damals trug und was man gegessen hat.

Möglicherweise wird Ihre Deutung des 20. Jahrhunderts das Geschichtsdenken von vielen Menschen beeinflussen. Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?

Follett: Ich bin mir der Verantwortung bewusst. Aber es geht mir nicht darum, den Lesern etwas beizubringen. Fakt ist, die meisten lesen lieber einen Roman als ein Geschichtsbuch, weil es ihnen einfach leichter fällt. Aber bei meinen Romanen haben sie am Ende auch etwas über Geschichte erfahren und vielleicht auch über ihre Herkunft. Das mögen die Leser, denn sie sind ja nicht dumm. In Kapitel eins von „Winter der Welt" erfährt man, wie ein Tyrann in Deutschland an die Macht kommt. Vielleicht gibt das ja Anlass, einmal etwas über die Politik und die Geschichte seines eigenen Landes nachzulesen. Aber wie gesagt: Ich möchte nicht als Oberlehrer auftreten. Jeder soll sich seine eigene Meinung bilden. Meine Aufgabe ist eher, die Fantasie des Lesers anzuregen.

England wurde 1940 und 1941 von den Nationalsozialisten massiv bombardiert. Dabei gab es 28.000 zivile Opfer. Können Sie als Brite über solche Ereignisse objektiv schreiben?

Follett: Ich denke ja. Denn ich bin kein Engländer, ich bin Waliser. Wir Kelten — die Schotten, die Iren und die Waliser — leben an den Rändern des Vereinigten Königreichs. Unsere Länder wurden von den Engländern erobert und seit Jahrhunderten gehorchen wir den englischen Gesetzen. Ich beschwere mich darüber nicht, ich bin kein Nationalist. Aber ich gehöre auch nicht der herrschenden Gruppe an. Bereits mit fünf Jahren war mir bewusst, dass ich Waliser bin und kein Engländer. Ich habe die Dinge immer aus einer multinationalen Perspektive betrachtet, Engländer hingegen sehen die Welt durch die englische Brille. Zum Beispiel hassen sie es, zur Europäischen Union zu gehören und Gesetze aus Brüssel befolgen zu müssen. Uns Walisern hingegen ist es egal, ob die Gesetze in London oder in Brüssel gemacht werden. (lacht)

Ist Ihre Vorstellung vom Zweiten Weltkrieg auch von den lebhaften Erzählungen Ihrer Eltern geprägt?

Follett: Ja. Meine Eltern erlebten im Sommer 1940 als Teenager die Zerstörung von Cardiff. Die deutsche Luftwaffe bombardierte Hafenstädte und Flughäfen, aber sie traf natürlich auch Wohngebiete. Walisische Kinder durften während des Kriegs nur geringe Mengen an Süßigkeiten haben. Jedes Bonbon wurde gezählt. Mein Großvater besaß einen Laden in Cardiff. Als die Luftwaffe erstmals Bomben über der Stadt abwarf, war er gerade in seinem Geschäft, seine Familie hingegen saß zuhause eine Meile entfernt. Als er nach der Entwarnung nach Hause ging, sah er die ganzen zerstörten Wohnhäuser. Er wusste nicht, ob auch seine Familie getroffen war. Aber sie hatte Glück, weshalb ich heute hier sitze. Mich hat Großvaters Geschichte sehr beeindruckt, es waren ja schreckliche Erlebnisse, auch wenn alle aus meinem Clan den Krieg überlebt haben.

Auch in England gab es 1933 eine faschistische Partei, The British Union Of Fascists. Ihr Gründer war Oswald Mosley, Vater des Sportfunktionärs Max Mosley. Wie gehen die Engländer mit diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte um?

Follett: Die Briten würden diese Episode gern vergessen und sagen können: Die Faschisten waren woanders! Aber ich finde, man sollte daran erinnern, was in den 1930ern in England passiert ist. Eine Zeit lang war die British Union Of Fascists sogar ziemlich populär - sowohl bei der Arbeiterklasse als auch bei der Oberschicht. Besonders hervorzuheben ist Lord Rothermere, der die Faschisten mit Geld und mit seiner Daily Mail unterstützte. Eine berühmte Schlagzeile lautete: „Die Schwarzhemden leben hoch!"

In Ihrem Buch gibt es eine Szene, in der die Londoner Polizei britische Faschisten beschützt und gleichzeitig demokratische Gegendemonstranten verprügelt. Entspringt das Ihrer Fantasie?

Follet: Nein. Alles, was in diesem Kapitel passiert, habe ich detailgetreu recherchiert. Es passierte im Mai 1936. Berittene Polizisten drängten friedliche demokratische Demonstranten so lange gegen ein Schaufenster, bis es zerbrach und Menschen sich schwer verletzten. Es gibt dazu Interviews mit Zeitzeugen. Die britische Regierung hat damals entschieden, dass dieser Faschistenmarsch durch London legitimiert ist durch das Gesetz der Redefreiheit. Und deshalb wollte die Polizei den Schwarzhemden den Weg freimachen. Aber die Gegendemo war zu groß, weshalb die Ordnungshüter mit Gewalt einen Pfad durch die Menge knüppelten. Interessant ist, dass die Faschisten selbst überhaupt nicht darin verstrickt waren, denn sie konnten ihren Marsch am Ende gar nicht antreten und mussten nach Hause gehen.

King Edward III und seine spätere Frau Wallis Simpson waren glühende Hitler-Verehrer. Wäre in Großbritannien unter Umständen ein faschistisches System möglich gewesen?

Follett: Nun, der Faschismus hat nicht in England, Frankreich oder Amerika triumphiert, sondern in Deutschland. Dafür gibt es zwei Gründe: Deutschland litt am meisten unter der Weltwirtschaftskrise, die Arbeitslosenrate war mit 40 Prozent die höchste in Europa. Zudem war die deutsche Demokratie noch sehr jung. Die Bürger trauten ihr nicht zu, die Probleme zu lösen. Die Demokratien in Frankreich, England und Amerika waren hingegen viel älter und gefestigter. Es gab auch in Frankreich Faschisten, aber die meisten Bürger glaubten an die Demokratie. Die Deutschen jedoch waren so verzweifelt, dass sie in der Diktatur die einzige Lösung sahen. Sie lassen Hitler, Göring, Goebbels und Stalin auftreten.

In Deutschland gab es lange eine Diskussion, ob man Hitler menschlich zeigen darf. Wie denken Sie darüber?

Follett: Zuerst einmal versuche ich nicht, diese Leute menschlich zu machen. Ich schlüpfe auch nicht in deren Haut, wenn ich über sie schreibe. Hitler, Göring, Goebbels oder Stalin haben so monströse Verbrechen begangen, ich sehe wirklich keinen Grund, sie menschlich darzustellen.

Inwieweit lassen Sie Einzelschicksale in Ihre Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einfließen?

Follett: Das Schicksal der jüdischen Familie Rothmann aus Berlin basiert zum Beispiel auf wahren Ereignissen. Vieles von dem, was meinen fiktiven Figuren zustößt, ist Menschen so oder in ähnlicher Weise wirklich passiert. Die meisten meiner Charaktere sind aus niedrigeren Schichten, die nichtsdestotrotz die Welt verändert haben, weil sie in Kriegen und Revolutionen gekämpft, Gewerkschaften und neue politische Parteien gegründet haben. Anfangs zog ich in Erwägung, Interviews mit Zeitzeugen zu führen, aber das war gar nicht nötig. Man kann heute wirklich alles detailgetreu nachlesen.

Sind Sie bei der Recherche auf Dinge gestoßen, über die Historiker bisher noch nicht ausreichend geschrieben haben?

Follett: Ich wollte mich generell nicht auf historische Aspekte stürzen, die allzu bekannt sind. Deshalb habe ich mich bei der Beschreibung des Holocaust auf die Ermordung von Behinderten konzentriert und nicht auf den Genozid an den Juden. Mit den Behinderten begann das organisierte Töten überhaupt erst. Anfangs hatten die Nazis noch Angst vor der Reaktion der Bevölkerung. Auch erzähle ich, wie Hitlers Schergen in Deutschland Homosexuelle verfolgten und wie sie in der Sowjetunion Kommunisten im großen Stil ermordeten. Ich wollte zeigen, dass es die unterschiedlichsten Todeslager gab. Auschwitz kommt in meinem Buch nicht vor. Es ist hinlänglich bekannt, was dort mit den Juden passierte. Damit kann man niemanden mehr schockieren. Im Holocaust wurden elf Millionen Menschen umgebracht, eine Hälfte davon war jüdischer Abstammung, die andere Hälfte bestand hauptsächlich aus Kommunisten, aber auch aus homosexuellen, behinderten und kranken Menschen.

In Ihrem Roman lassen Sie einige sehr mutige Frauen auftreten. Welche Rolle spielten Frauen im Widerstand gegen die Nazis?

Follett: Es gab tatsächlich deutsche Frauen und natürlich auch Männer, die Informationen nach Moskau geschickt haben. Dieses Netzwerk nannte sich „Die rote Kapelle". In meinem Buch erzähle ich von jungen Frauen, die in den 1930er Jahren herausfanden, dass die Nazis in speziellen Krankenhäusern Behinderte töteten. Den Eltern wurde gesagt, ihr Kind sei leider während der Therapie an einer Lungenentzündung gestorben. Protest gegen Hitler war selten, aber bei diesem speziellen Programm hat es ihn tatsächlich gegeben, vor allem von katholischen Geistlichen. Die Nazis reagierten darauf mit äußerster Brutalität. Diese Priester sind aber nicht ganz umsonst gestorben, denn die Nazis stoppten dieses spezielle Vernichtungsprogramm — leider nur, um im Ausland damit fortzufahren.

Warum sind ausgerechnet die Szenen aus dem spanischen Bürgerkrieg an Grausamkeit schwer zu überbieten?

Follett: Das hat etwas mit dem Hass der russischen Offiziere auf die Anarchisten zu tun, die paradoxerweise auf ihrer eigenen Seite kämpften. Das Ziel der Sowjetunion war, Francos faschistische Regierung zu stürzen, damit die Kommunisten übernehmen konnten. Dafür mussten sie aber erst die Anarchisten brutal ausmerzen, die in Spanien sehr populär waren und mitregieren wollten. Spanien ist übrigens das einzige Land der Welt, in dem der Anarchismus je eine politische Rolle gespielt hat. Nachdem Franco 1936 zum Staatsstreich aufgerufen hatte, begann der Bürgerkrieg. Die Anarchisten halfen, die Arbeiterklasse zu bewaffnen im Kampf gegen die Faschisten.

Lloyd, illegitimer Sohn des Earls Fitzgerald und des Dienstmädchens Ethel Williams, gelingt die Flucht aus Frankreich und überlebt später in Spanien die mutwillige Exekution durch einen sowjetischen Obersten. Wofür steht Lloyd?

Follett: In Frankreich gab es ein ganzes Netzwerk, welches vielen britischen und amerikanischen Soldaten über Spanien zur Flucht in die Heimat verhalf. Denn Spanien verhielt sich technisch neutral. Wer es einmal dorthin schaffte, war theoretisch frei, aber da es ein faschistisches Land war, musste man sich versteckt halten. Einigen ist sogar die Flucht aus deutschen Kriegsgefangenenlagern über Frankreich und Spanien nach England gelungen. Aber nachdem sie endlich zuhause angekommen waren, wurden sie direkt wieder an die Front geschickt. Eine Ironie des Schicksals - auch für Lloyd.

Welche historische Persönlichkeit hat das 20. Jahrhundert am stärksten geprägt?

Follett: Puh… schwere Frage. Ich denke, wenn eine bestimmte Person das 20. Jahrhundert geprägt hat, dann war es Präsident John F. Kennedy. Er verweigerte es, Truppen nach Vietnam zu senden. Erst sein Nachfolger Lyndon B. Johnson tat dies. Kennedy war sehr wach, was das Raumfahrtprogramm betrifft. Und er war natürlich sehr erfolgreich im Kalten Krieg und hat Westberlin unterstützt. Kennedy hatte es geschafft, seine Vision zu kommunizieren, auch wenn einige seiner Unternehmungen scheiterten. Ich finde, er symbolisiert das Gute an der westlichen Zivilisation.

Aber Kennedy führte die Welt auch an den Rand eines Atomkrieges. Bei der Kubakrise kamen die Supermächte einer direkten militärischen Konfrontation am nächsten.

Follett: Das ist eine sehr komplexe Geschichte. Ich hebe sie mir für mein nächstes Buch auf. (lacht)

In diesem Buch erzählen Sie, wie 1942 auf dem Gelände der privaten Universität von Chicago der erste Kernreaktor der Welt errichtet wurde. Ist die Entwicklung der Atombombe der Wendepunkt aller Wendepunkte?

Follett: Ich glaube nicht, aber zuerst sah es tatsächlich so aus. Für viele Jahre hielt man es für wahrscheinlich, dass der Welt ein Atomkrieg bevorstünde. Aber es ist nie passiert. Mit zwei Ausnahmen wurden Atomwaffen nie gegen Menschen eingesetzt. Insofern kann die Entwicklung der Atombombe gar nicht der Wendepunkt aller Wendepunkte sein.

Aber gerade hat ein iranischer Luftwaffengeneral Israel offen mit einem Erstschlag gedroht. Der Westen und Israel verdächtigen den Iran, an Atomwaffen zu arbeiten. Das alles hat doch etwas mit den Ereignissen von 1942 zu tun.

Follett: Nun, solche Krisen gäbe es sicher auch ohne die Atombombe, aber wir müssten weniger Angst vor ihnen haben. Bereits ihre Entwickler wurden von Zweifeln an ihrem Tun geplagt. Einige von ihnen standen politisch ganz weit links, sie alle waren sehr idealistisch. Dass die Bombe für Hiroshima und Nagasaki bestimmt war, sagte man ihnen nicht. Für einige der Wissenschaftler bedeutete das ein großer Schock. Sie nahmen an, man würde die Atombombe auf eine winzige Insel ohne Bewohner werfen, um zu demonstrieren, wie zerstörerisch sie war. Sie glaubten, die Amerikaner wollten bloß eine Drohkulisse aufbauen, um so den Krieg zu beenden. Am Ende waren die Wissenschaftler wütend und gleichzeitig von massiven Schuldgefühlen geplagt.

Ken Follett — Winter der Welt, Lübbe Hardcover, 1024 S., € 29,99

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