Literatur: Wie nah kommt das Monster?

Düsseldorf. Die Kritiker Denis Scheck und Hubert Winkels ergründen den Erfolg von Littells Roman „Die Wohlgesinnten“.

Düsseldorf. Die deutsche Kritikerseele ist bekanntlich ein Organ, das auf Erschütterungen sehr empfindlich reagiert. Vor allem dann, wenn diese mit der Nazizeit zu tun haben. Insofern war vorherzusehen, dass das Erscheinen von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" ein Erdbeben auslösen würde.

Die Verkaufszahlen zeigen allerdings, dass die Resonanz weit über die Redaktionen hinausgeht. Am Donnerstag setzten sich die beiden Literaturkritiker Denis Scheck und Hubert Winkels zusammen, um diesem Phänomen auf den Grund gehen.

Das Gipfeltreffen der beiden Redakteurskollegen vom Deutschlandfunk fand im Heine Haus statt. Wer ein Streitgespräch erwartet hatte, sah sich allerdings getäuscht. So unterschiedlich ihre Positionen sind, Verächter des Buches ist keiner von beiden.

Scheck outete sich als vehementer Fürsprecher und rügte die hiesige literarische Kritik, die sich auf die Frage "Darf man das?" verdichtete.

Gemeint war Littells literarische Methode, die Verbrechen der Nazizeit aus der Perspektive des Täters zu schildern. Genauer, aus der Sicht des intellektuellen ObersturmbannführersMax Aue, der die Vernichtungsaktionen zwischen 1941 und 45 mit kaltem, für den Leser erschütternden Detailrealismus beschreibt.

Diese Begeisterung wollte Hubert Winkels nicht teilen. Seine anfängliche Empörung sei zwar einer Wertschätzung mit "emotional abwehrender Haltung" gewichen, doch Unbehagen bereite ihm nach wie vor, dass Max Aues indifferente moralische Position den Leser in eine ambivalente Haltung zu den Verbrechen zwinge.

Scheck widersprach nicht, plädierte jedoch für das Lesen als unberechenbare Erfahrung: "Wie nahe kommt mir beim Lesen dieses Monster?"

Sehr nah, das zeigte der Schauspieler Daniel Graf vom Düsseldorfer Schauspielhaus, der Passagen aus den Anfangskapiteln las, in denen Max von Aue den Leser direkt anspricht.

Was die beiden Kritiker hier andeuteten, geht auf den deutschen Erfahrungsmangel mit der Figur des poète maudit zurück, der die dunklen, blutigen, perversen Seiten des Lebens schildert. Frankreich besitzt eine lange Tradition von de Sade bis Bataille, an die Littell anknüpft.

Von daher war auch Denis Schecks Hinweis auf den "schwarzen Humor" der "Wohlgesinnten" zu verstehen, die der Kritiker aus den (historisch exakten) Schilderungen rassepolitischer Absurditäten sowie einer grotesken Vernichtungslogistik herauslas.

Für Winkels änderte dies nichts daran, dass die Ebene der Vernichtungsrealität mit der mythologischen Sphäre des Romans nicht zu vereinen sei.

Gemeint ist damit Aues Inzest mit seiner Zwillingsschwester, seine Homosexualität, sein Mord an Mutter und Stiefvater sowie die Anspielung auf die Eumeniden (dt. die Wohlgesinnten) im Titel, die Kritiker als Verweis auf den Atriden-Mythos lasen.

Bei so viel mytho-, psycho- und pathologischer Bedingtheit sah Winkels die Entscheidung Aues, an der Judenvernichtung teilzunehmen, nicht ausreichend begründet: "Wo ist das Element der Freiheit des Einzelnen", spitzte er seine Bedenken zu.

Dass das Buch trotzdem Maßstäbe gesetzt habe, darin waren sich beide Kritiker jedoch einig. Denis Scheck nannte es einen "Urmeter" für Literatur aus der Täterperspektive. Nicht nur der gewaltigen Recherche Littells wegen, der um seine erfundene Hauptfigur ein geschichtlich exakt nachweisbares Figuren- und Faktennetz aufgebaut hat.

Mit dem Wegsterben der Zeitzeugen gewinnt die Fiktionalisierung des Verbrechens in Romanen oder Filmen an Bedeutung. Nach Meinung von Scheck und Winkels hat Jonathan Littell mit den "Wohlgesinnten" dafür einen Standard gesetzt, an dem sich alle späteren Werke zu messen haben.

Bleibt zu hoffen, dass ihre Kritikerkollegen das in Zukunft auch so sehen.

Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten", Berlin Verlag, 1383 Seiten, 36 Euro.

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