Psyche - Der ganz normale Wahnsinn von Manfred Lütz

Der Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Lütz gibt einen mit Witz gepfefferten Einblick ins Seelenleben unserer Gesellschaft.

Düsseldorf. Der Mensch, den wir landläufig als normal empfinden, lebt nach dem Motto: Bloß nicht auffallen. Seine Meinung liegt stets im Trend. Er ist so gut angezogen, dass sich später keiner mehr erinnert, was er anhatte. Auf seinem Grabstein könnte stehen: Er lebte still und unscheinbar; er starb, weil es so üblich war.

"Wir wollen solch wahnsinnig Normale nicht verachten. Sie sind der Kitt unserer Gesellschaft, die Existenzberechtigung jeder Straßenverkehrsordnung." So sagt es Manfred Lütz in seinem neuen Buch "Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen."

Lütz darf derart zugespitzt urteilen. Er kennt das Metier als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik. Als Buchautor und Kabarettist weiß er, wie man ernsthafte Anliegen augenzwinkernd unter die Leute bringt.

Lütz’ Herz schlägt für "all die liebenswürdigen, sonderbaren, fantasievollen Gestalten, die unsere psychiatrischen Abteilungen bevölkern und denen Sie gestern noch im Bus oder in der Bahn gegenüber gesessen haben, ohne davon etwas zu merken." Denn "ob jemand als krank oder als gesund gilt, hat sehr viel mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun."

Auf seine rheinisch-levantinische Art beschreibt Lütz die wahnsinnig Normalen und die ganz normalen Wahnsinnigen. Zum Beispiel den hier: "Keiner meiner Patienten ist so abgedreht wie Dieter Bohlen und keine meiner Patientinnen so naiv wie seine Gespielinnen. Dennoch, so verrückt das Ganze auch ist, weder Bohlen selbst noch seine Alten/Neuen hätten die Chance, in der Psychiatrie behandelt zu werden. Bohlen ist normal."

Menschen mit einer psychischen Störung hingegen "machen oft den ganz normalen Wahnsinn unserer Gesellschaft einfach nicht mit", schildert Lütz aus seiner Praxis. Wertfrei beschrieben seien sie "zunächst einmal nur außergewöhnlich".

Wie zum Beispiel der Schauspieler Klaus Kinski. Man habe versucht, "ihn auf einen psychiatrischen Nenner zu bringen, weil er sich mal wenige Tage in einer psychiatrischen Klinik aufgehalten hatte".

Das nennt Lütz eine Verdachtsdiagnose: "Es ist nie auszuschließen, dass dünnhäutige Menschen irgendwann ihre dünne Haut durch die Mauern eines psychiatrischen Krankenhauses schützen. Doch damit ist gar nichts bewiesen. Die Psychiatrie darf sich nicht verleiten lassen, das Außergewöhnliche, das Exzentrische durch Diagnosen ruhigzustellen."

Der Seelenarzt Lütz bringt es fertig, ein ganzes Wissensgebiet umfassend zu behandeln, dabei verständlich zu bleiben und zu unterhalten. Das bestätigt ihm auch sein "von mir sehr geschätzter Metzger", den er Buchmanuskripte vorab lesen lässt.

Das Sachverzeichnis zum Buch umfasst 200 Stichworte - von Alkohol bis Zwangseinweisung. Lütz erklärt, was hinter Begriffen wie Alzheimer, Borderline-Störung, Depression oder Schizophrenie steht und was von unterschiedlichen Therapieformen zu halten ist. Festgemacht an Patienten und ihren Schicksalen, anschaulich, eingängig, aber nie banal oder gar peinlich.

Kritisch blickt Lütz auf unsere Gesellschaft: "Es ist eine absurde Gesundheitsreligion entstanden, in der Menschen nur noch vorbeugend leben, um dann gesund zu sterben. Dies ist eine einzige Anleitung zum Unglücklichsein. Wenn nämlich Gesundheit in Wirklichkeit niemals erreicht werden kann, dann müssen alle sich irgendwie krank fühlen."

Gütersloher Verlagshaus, 185 Seiten gebunden, ISBN 978-3-579-06879-4, 17,95 Euro

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Liebe und Hass in der Vorstadt
Peter Kurth und Peter Schneider ermitteln im „Polizeiruf“ nach einem Kindsmord in Halle/Saale Liebe und Hass in der Vorstadt
Aus dem Ressort