Schriftsteller Siegfried Lenz: Zweisamkeit als größtes Glück

Interview: Der Schriftsteller Siegfried Lenz (84) über die Gorch Fock-Debatte, das Alter und die Verpflichtung weiterzuschreiben.

Hamburg. Der Hamburger Schriftsteller Siegfried Lenz feiert am 17. März seinen 85. Geburtstag. Im Interview zieht der große Autor der deutschen Nachkriegsliteratur („Deutschstunde“, „Heimatmuseum“) Bilanz: „Man muss sein Leben rechtfertigen“. Der einstige Seekadett im Zweiten Weltkrieg äußert sich auch zur Affäre um die „Gorch Forck“, das Segelschulschiff hält er für „entbehrlich“. Trotz Krankheit und Gebrechen erträgt der gebürtige Ostpreuße das Alter mit Humor: „Überstehen ist alles.“ Lenz schreibt an einer Novelle. Lebensmut schenkt ihm seine zweite Frau Ulla, am 12. Juni steht ihr erster Hochzeitstag bevor. „Mit 85 Jahren hat das Leben immer noch Hoffnung übrig“, sagt Lenz.

Sie können auf ein langes Leben und großes Werk zurückschauen. Gibt es ein Buch, in dem Sie sich selbst wiederfinden?

Lenz: „Ja, im Roman „Der Mann im Strom“. Ein alter Taucher, von dem man glaubt, dass er für seinen Beruf nicht mehr taugt. Der sein Taucherbuch fälscht, sich jünger macht, um nochmal runterzugehen, und an seiner symbolischen Entsprechung arbeitet, am Wrack. Er, das Wrack, arbeitet nicht nur sinnbildlich, sondern konkret an einem Wrack. Das habe ich versucht herauszustellen. Überhaupt, man schreibt eigentlich nur von sich selbst. Fast jeder Schriftsteller - im Sinn einer Selbstversetzung.“

War auch Ihr großer Roman „Deutschstunde“ über das Thema Schuld und Pflicht am Beispiel eines Malverbots in der NS-Zeit Ergebnis einer Selbstversetzung?

Lenz: „Durchaus. Es gab diese absurden Verbote, Malverbote, Schreibverbote. Ich habe mich damals als junger Schriftsteller gefragt, wie würdest Du reagieren, wenn Du plötzlich von offizieller Seite ein Schreibverbot hättest. Aber da ich das nicht als Schriftsteller tun wollte, sondern einen Maler mir vorstellte, habe ich die Geschichte eines Malverbots in Deutschland zu beschreiben versucht.“

Würden Sie den Pflichtbegriff in der „Deutschstunde“ heute anders fassen?

Lenz: „Nein, ich würde ihn genauso definieren und genauso in der Praxis bewerten.“

Mit Pflicht, Gehorsam und Befehlsnotstand setzt sich auch Ihre Novelle „Ein Kriegsende“ auseinander. Dies weckt Assoziationen zur Debatte über das Segelschulschiff „Gorch Fock“, auf dem es Schikanen gegeben haben soll. Sie waren als junger Mann Seekadett auf dem Panzerkreuzer „Admiral Scheer“. Wie sehen Sie die „Gorch Fock“-Affäre?

Lenz: „Schikanieren gehört prinzipiell nicht zu den Elementen einer militärischen Erziehung, stattdessen aber Überzeugen. Wer einen jungen Menschen überzeugen will, dass er sich im Ernstfall entsprechend verhalten muss, der sollte das zumindest versuchen, solange bis der, der überzeugt werden sollte, sagt „Nicht weiter, ich habe verstanden“.“

Halten Sie ein Segelschulschiff heute noch für sinnvoll angesichts der späteren Arbeit von Marine-Offizieren auf High-Tech-Schiffen?

Lenz: „Die Marine beharrt auf Traditionen. Aber was lernt man? Knoten, Tampen ... Beim Krieg heute fragt niemand mehr nach der Fähigkeit, Segel zu setzen. Wer in Traditionen verliebt ist, der soll das tun meinetwegen, ich halte es für entbehrlich. Um gegen die Piraterie an der afrikanischen Küste etwas zu unternehmen, würde niemand auf den Gedanken kommen, die „Gorch Fock“ als Droherscheinung hinzuschicken.“

Ist es ein grundsätzlicher Fehler, Männer und Frauen gemeinsam auf einem Marineschiff zu haben?

Lenz: „Das ist eine Bekenntnisfrage. Ich glaube, dass es nicht gut ist, prinzipiell. Wofür trainiert und probt man? Für den Ernstfall. Allein die Vorstellung, dass junge Mädchen oder Frauen verwickelt werden in Kriegshandlungen, in Seeschlachten, finde ich unerträglich. Lasst die Frauen aus dem Spiel! Die haben genug zu leiden als Frauen.“

Sie haben immer wieder Extremsituationen beschrieben, waren selber kurz vor Kriegsende desertiert und hatten Ihr Leben riskiert. Sehen Sie in heutiger Zeit noch die Bereitschaft, eigenverantwortlich zu handeln?

Lenz: „Das betrifft den Einzelnen. Das kann man nicht als generelle Empfehlung aussprechen oder weitergeben. Wenn Soldaten in Afghanistan oder im Irak bereit sind, die Truppe zu verlassen, dann zeigt das doch, dass der Einzelne heute trotz aller Geborgenheit zwischen den Kameraden nicht einverstanden ist mit der offiziellen Politik. Eine Entscheidung dieser Art zu treffen, ist immer ein Problem des einzelnen Menschen.“

Welchen Stellenwert messen Sie dem Zufall bei im Leben?

Lenz: „Sicher, es gibt günstige Zufälle, es gibt miserable Zufälle, es gibt entsetzliche Zufälle. Klar, man wird auch durch Zufälle in seinem Lebensweg bestimmt oder begünstigt.“

Können Sie solche Zufälle nennen?

Lenz: „Glückszufälle, ja: Dass Ulla mir geholfen hat, mein Buch zu Ende zu schreiben in einem Augenblick, als ich glaubte, meine ganze Vorstellungskraft, die Imagination sei nicht mehr vorhanden. Das war ein Glückszufall ohnegleichen.“

...und miserable Zufälle?

Lenz: „Tod, Tod. Was ich im Krieg gesehen habe.“

Haben Sie Schuldgefühle, überlebt zu haben, und zugleich aus dem Tod der vielen anderen eine Verpflichtung empfunden, zu schreiben?

Lenz: „Das ist das Entscheidende. Sie haben selbst auf Ihre Frage geantwortet. Ich hänge der Überzeugung nach, dass man sein Leben rechtfertigen muss - wenn man schon die Möglichkeit hat, einigermaßen begünstigt zu leben. Begünstigt, damit meine ich zu essen zu haben, ein Dach über dem Kopf zu haben, das ist schon begünstigt - im relativen oder auch absoluten Vergleich zu vielen anderen Menschen. Das ist schon eine unglaubliche Begünstigung. Camus hat es auch gesagt: „Man muss sein Leben rechtfertigen.“

Das klingt sehr pathetisch. Aber in stiller Weise kann man dies versuchen.“ Und so schreiben Sie weiter?

Lenz: „Ja, zurzeit arbeite ich an einer Novelle mit dem Titel „Die Maske“. Ich weiß nicht, wohin es führen wird. Die Maske hat viele mythologische Bedeutungen, aber auch Bedeutungen für den täglichen Umgang der Menschen. Ich versuche, das zu zeigen. Ich bin noch nicht fertig, und über unfertige Dinge sollte man nicht reden.“

In Ihrer jüngsten Novelle „Landesbühne“ als Summe ihrer überwiegend skeptischen existenzialistischen Lebenssicht bleibt am Ende nur das kleine Glück von zwei Menschen, deren Vertrautheit als Ausblick. Bleibt der Partner, ist das alles?

Lenz: „Das ist ungeheuer viel! Ist das alles? Diese Frage lässt natürlich auch eine Antwort offen, nämlich die Antwort: Ist das nicht genug? Ist das nicht das Äußerste, was erreichbar ist? Zwei gegen die Welt, gegen die landläufige Erfahrung, die die Welt uns übrig lässt. Zwei, zwei gegen die Welt!“

Am 12. Juni vergangenen Jahres haben Sie wieder geheiratet. Hat Ihnen diese Hochzeit Kraft und Lebensmut gegeben?

Lenz: „Ja, aber bereits die Zeit vor der Hochzeit hat mir gegeben, was Sie als Kraft und Lebensmut bezeichnen. Wie Sie wissen, ist meine Frau Liselotte, mit der ich 57 Jahre verheiratet war, gestorben - die beste Freundin meiner jetzigen Frau Ulla. Und als ich spürte, dass ich Schwierigkeiten mit der Imagination hatte, um meine Novelle „Die Schweigeminute“, an der mir sehr viel lag, fortsetzen zu können, hat Ulla - lange Jahre meine Nachbarin, die Familien waren auch sehr innig befreundet - mir geholfen, das weiterzumachen.“

Vor dem Hochzeitstag kommt noch der 85. Geburtstag am 17. März. Wie werden Sie feiern?

Lenz: „Wir werden an Rilkes Gedichtzeile denken, die lautet: „Überstehen ist alles“.“ Sie nehmen das Alter mit Humor. Loki Schmidt sagte einmal sinngemäß, alt werden sei schön, alt zu sein doch all zu oft zu beschwerlich. Sehen Sie das auch so? Lenz: „Wir waren so viele Jahrzehnte befreundet, sehr eng befreundet mit Loki, so dass ich auch heute ihr nicht widersprechen möchte.

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