Siegfried Lenz ist zufrieden

Der Autor berichtet vom Krieg und seiner Desertation, von seiner Not nach dem Tod seiner Frau und dass er weiterschreibt.

Herr Lenz, Sie bezeichnen Ihre neues Buch als "Selbstrettung", wie ist das zu verstehen?
Siegfried Lenz: Es ist nicht eine reine Love-Story, es ist auch Pädagogik im Spiel, Pädagogik und Liebe. Die Engländer haben einen schönen Ausdruck hierfür: love and circumstances, die Umstände, unter denen eine Liebe möglich ist. Wobei die Gebrochenheit der Lehrerin und die Abhängigkeit des Schülers eine eigene Komplikation haben.

Mit Ihren Werken haben Sie dazu beigetragen, die jüngere deutsche Geschichte aufzuarbeiten, die Demokratisierung der Bundesrepublik befördert ebenso wie die Aussöhnung mit Polen. Sind Sie mit dem Erreichten zufrieden?
Lenz: Was ich glaubte sagen zu müssen im Sinne eines Einspruchs, habe ich zu tun versucht. Heinrich Mann sagte, Literatur bietet dem Leser Angebote, anzunehmen oder sich zu verweigern. Aber kann man je zufrieden sein? Doch, ich bin zufrieden.

Ihre großen Romane kamen zur rechten Zeit. "Deutschstunde" 1968, als Autoritäten in Frage gestellt und die jüngere Geschichte tabulos aufgearbeitet werden sollte. Und in "Heimatmuseum" (1978) haben Sie - lange vor Grass’ Novelle "Im Krebsgang" (2002) - Heimat literarisch wiederauferstehen lassen und so zumindest einem Teil der Vertriebenen inneren Frieden schenken können.
Lenz: Das lag mir am Herzen. Die Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Aber was mich beeindruckte: Ich musste jetzt 42 Mal in die onkologische Klinik, und der behandelnde Arzt empfing mich so freudig, dass ich ihn freimütig nach dem Grund seiner Freude fragte. Weil ich zunächst mir dachte, so freudig kann einen nur der Tod willkommen heißen. Und da sagte er: "Herr Lenz, ich möchte Ihnen die Hand geben. Ich habe meine Abiturarbeit über Ihre ,Deutschstunde’ geschrieben." Ich frage "Und?" "Mit Glanz bestanden!" Ich sag’, "Ich bin erleichtert".

Nochmal zu Brandts Ostpolitik, die Sie unterstützten, auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze. Ein Teil der Vertriebenen war empört und warf Ihnen, dem "Heimatverräter", Ihre Bücher in den Garten, hier, wo wir sitzen?
Lenz: Da drüben (zeigt mit der Hand). Ich war unterwegs, und meine Frau rief mich an und sagte: Stell Dir vor, jetzt haben sie wieder ein paar Bücher in den Garten geworfen. Günter Grass und ich waren ja 1970 in Warschau. Brandt hatte uns eingeladen zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags mit dem längst historischen Kniefall, den ich habe erleben können. Ich war tief beeindruckt. Ein Mann mit dieser Biografie, der nichts dagegen tun konnte, übermannt zu werden angesichts der Geschichte und dessen, was im Jüdischen Ghetto geschehen ist. Ich weiß ein wenig darüber durch meinen Freund Marcel Reich-Ranicki.

Hatte dieser Kniefall mehr Wirkung als viele Reden?
Lenz: Zumindest in unseren Nachbarländern. Ich habe 30 Sommer lang in Skandinavien gelebt, ich spreche die skandinavischen Sprachen. Und ich erinnere mich mit Freude und Dankbarkeit an die Reaktion in der skandinavischen Presse. Und ich denke daran, weil ich auch Freunde in Holland habe, wie die holländischen Medien diesen Kniefall kommentierten - im Unterschied zu einigen Politikern hier.

Nach dem Krieg haben Sie sich philosophisch orientiert am französischen Existentialismus, der die Verantwortung des Einzelnen betont. Sie haben in Ihren Werken immer wieder Situationen konstruiert, in denen sich Ihre Protagonisten bewähren und vor allem entscheiden mussten. Haben Sie solche Situationen selbst erlebt?
Lenz: Nein, eigentlich nicht. Aber ich stellte sie mir vor. Dass Du verurteilst wirst zu entscheiden und absehen kannst, dass, egal wie Du dich entscheidest, ein Makel zurückbleibt. Das heißt: Du musst eine Entscheidung treffen, die Dir nachgehen wird. Das hat mich immer beschäftigt, weil viele Menschen in solchen extremen Situationen gewesen sind und sich haben entscheiden müssen. Ich habe hierzu auch die Novelle "Ein Kriegsende" geschrieben über Befehlsverweigerung.

In Ihrer Biografie ist eine solche Extremsituation genannt. Kurz vor Kriegsende sind Sie in Dänemark als Soldat desertiert. Sie sollen Zeuge einer Hinrichtung gewesen sein oder hätten gar selber daran teilnehmen sollen?
Lenz: Ich war im letzten Kriegsjahr Seekadett auf der "Admiral Scheer", der in Kiel bei einem Bombenangriff an der Pier versenkt wurde. Die Besatzung kam nach Naestred (Dänemark) in eine ehemals dänische Kaserne. Wir hatten dort Grundausbildung. Eines Tages sagte ich mir kurz vor Ende, das hat keinen Zweck, Du musst nach Hause. Mit zwei Kameraden kamen wir zu dem Entschluss, wir versuchen, nach Deutschland zu kommen. Dänen haben uns unglaublich unterstützt. Wir kamen an die Grenze. Englische Panzerspähwagen erwarteten bei Krusau alle deutschen Truppen und dirigierten uns in eine Gefangenschaft in ein Dorf, das Witzwort heißt, in der Nähe von Husum. Da kampierten wir auf freiem Feld und kochten uns am liebsten Brennnesselsuppe.

War die Desertion eine spontane Entscheidung oder Folge Ihrer wachsenden Distanz zur Nazidiktatur? Sie waren anfangs eifriger Hitlerjunge, Zweifel wuchsen nach dem Attentat auf Hitler 1944. Gingen Ihnen die Augen auf?
Lenz: Durchaus.

Und auslösendes Moment wurde die Hinrichtung, bei der Sie Zuschauer waren?
Lenz: Das war ein auslösendes Moment, der Enschluss entwickelte sich gleitend.

Ihren Roman "Exerzierplatz" (1985) könnte man auch als Warnung vor einer neuen Militarisierung der Bundesrepublik lesen - Soldaten kommen und zertrampeln die Setzlinge der prosperierenden Baumschule, die als Metapher fürs Land dient. Ist Deutschland mit seinen vielen Auslandseinsätzen in der Gefahr abzugleiten in militärische Abenteuer?
Lenz: Nein. Der Bundestag hat die Einsätze legitimiert. Es geht nicht ohne die Zustimmung des Parlaments. Das finde ich in Ordnung. Wir sind schließlich Mitglied der Nato, und diese hat ihre Mitglieder an Pflichten zu erinnern.

Ergänzen Sie den Satz: Wenn Schüler und Studenten meine Bücher lesen, wünsche ich mir...
Lenz: ...dass sie zu einem unterschiedlichen Fazit kommen, dass sie da einsprechen, wo sie auf Grund ihrer Erfahrung, ihrer Fantasie sich einzusprechen genötigt fühlen.

Wie ist Ihr Gemütszustand momentan? Herrscht nach der Novelle Aufbruch-Stimmung?
Lenz: Ich bin dabei und schreibe ein neues Werk, einen Schelmenroman mit dem Titel "Das Labyrinth". Das ist konkret und symbolisch zu verstehen!

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort