„Woodstock der Literatur“: Poetry Slam in Hamburg

Hamburg (dpa) - Poesie war einst etwas für ausgesprochene Schöngeister und hoffnungslose Romantiker, Poetry Slam für geistreiche Wirrköpfe. Doch inzwischen lockt der Dichterwettstreit die Massen - wie am Mittwochabend auf die Hamburger Trabrennbahn.

„Woodstock der Literatur“: Poetry Slam in Hamburg
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Mehr als 5000 Menschen kamen zu „Best of Poetry Slam - Open Air“. „Damit ist der Weltrekord geknackt“, sagte der ebenso charmante wie galant-arrogante Conférencier Michel Abdollahi wie beiläufig - und ging dann wieder zum wichtigen Teil des Abends über: der Poesie aus dem Alltag, mal gerappt, mal gereimt, mal ganz einfach gesprochen - und häufig politisch, eben Alltag.

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„Ich bin müde“ lautet etwa das erste Gedicht von Jan Phillip Zymny, das er an diesem lauen Sommerabend präsentiert. Und er spricht von den Gedanken, die „ihn nicht schlafen lassen“, vom „Nazi-Pack“ und den Flüchtlingen. „Gönnt diesen Menschen doch mal fünf Minuten Ruhe und gönnt ihnen ihre Smartphones“, brüllt er im typischen Stakkato. Das Publikum jubelt.

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Auch Sebastian 23 gibt in seiner etwa zehnminütigen Redezeit gleich zwei Texte zum Besten. Über den einen habe er lange nachgedacht, der andere sei etwas stumpfer. Und dann legt dieser großartige Wortakrobat und scharfzüngige Denker mit seinem „Vokalgedicht“ los, in dem einzig das „I“ als Vokal vorkommt - seine gedehnte Form eingeschlossen - und das im Duktus eines Fahrgeschäftsbetreibers auf dem Jahrmarkt. Das ist irrsinnig komisch. Dann kommt der Slamer zu seinem „etwas stumpferen Text“, den er „Halt's Maul“ nennt. Es geht um „Scheiß-Nazis“. Später werden sich Zymny und Sebastian 23 im Finale gegenüber stehen.

Doch es geht an dem Abend, den die Veranstalter als „Woodstock der Literatur“ bezeichnen und für den das Publikum Picknickdecken und Klappstühle mitgebracht hat, auch um andere Sorgen, Nöte und Banalitäten des Alltags.

Als Special Guest macht Julia Engelmann mit ihrem millionenfach geklickten Slamhit „One Day/Reckoning-Text“ den Anfang und philosophiert über Geschichten, „die wir später gern erzählen würden“. Der durchgeknallte, immer ein wenig an Helge Schneider erinnernde Andy Strauß erzählt von seinem achtfachen Espresso mit einem Schuss feinstem Olivenöl, den er mit Strohhalm trinkt. Das Öl diene dem Getränk nur als Schutz vor Staub und Asche seiner Zigarette. Patrick Salmen liest mit der Stimme eines Erkläronkels aus seinem „Tagebuch eines Nichtrauchers“.

Zu Beginn des Literaturspektakels hatte der mit blauem Sakko samt Einstecktuch und beiger Stoffhose bekleidete Moderator und Gründer des Slam Labels „Kampf der Künste“ Abdollahi in gewohnter Manier einige Juroren aus dem Publikum erkoren. In der zweiten Runde nach der Pause durfte dann das komplette Publikum mit seinem Applaus über den Sieger des Abends abstimmen. Da machte der Wuppertaler Jan Philipp Zymny mit seinem Hit „Nehmen sie Awesome“ das Rennen.

Doch auch der gebürtige Iraner Abdollahi hatte eine Botschaft zu verkünden: „Ich habe mit fünf Jahren, zur Zeit des ersten Golfkrieges, meine Heimat verlassen und nie Hass erfahren.“ Das habe auch daran gelegen, dass er in die großartige Stadt Hamburg gekommen sei, dem Tor zur Welt. „Ich habe keine Angst, dass die braune Brut die Übermacht in diesem Land übernimmt.“ Und wieder jubelte das Publikum. Poetry Slam ist eben nicht nur Poesie, sondern auch Politik, Alltag.

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