2057: Der Staat als Terrorist

Uraufführung: Im Maschinenhaus der Essener Zeche Carl wird Juli Zehs Theaterstück „Corpus delicti“, eine Auftragsarbeit, gezeigt.

<strong>Essen. Die ganze Zeit über wird eine 3D-Animation (Autor: Daniel Fritsche) auf die Wand projiziert mit jener Anatomie, wie Leonardo da Vinci den idealtypischen menschlichen Körper zeichnete: In die perfekten geometrischen Formen von Kreis und Quadrat ist er mit ausgebreiteten Armen und Beinen eingebettet. Nonstop laufen auch die biometrischen Daten der Delinquenten ab. Denn wir befinden uns in Juli Zehs Theaterstück "Corpus delicti", einer Auftragsarbeit der RuhrTriennale, zumeist vor Gericht beziehungsweise bei der Uraufführung im Maschinenhaus der Essener Zeche Carl. Wir schreiben 2057. Wie in George Orwells "1984" leben wir nicht mehr in einer Demokratie. Die so genannte, ominöse "Essenz" hat sie ersetzt und für die Gesellschaft stattdessen einen Lebensplan entworfen, der ohne Gott, Krankenhäuser und andere Tröstungen auskommt. Nur wenn der Mensch, was ungeplant ist, doch einmal leidet, springt die Gesellschaft ein. Dafür schuldet er ihr das Bemühen, Not zu vermeiden, indem er absolut gesund lebt - sonst wird der Körper zum "Delikt". Das wird mit einem Chip (wie er uns bald erwartet) kontrolliert, regelmäßig abzuliefern sind die Daten über keimfreie Wohnung oder Beschaffenheit des Urins. Toxische Substanzen (Alkohol, Zigaretten) sind tabu, Pflicht sind Vitamine, Proteine sowie Sporttraining.

Der gesunde Menschenverstand, Sauberkeit und Sicherheit

Für Mia Holl, eine 27-jährige hochintelligente, körperlich durchtrainierte Naturwissenschaftlerin kein Problem, ebenso wie ihr Bekenntnis zur alleinseligmachenden "Essenz". Ihr Bruder Moritz dagegen, ein glutvoller Anarchist, verehrt nichts inniger als die Natur und die Liebe, etwas dem Menschen ursprünglich Wesentliches, was aber einen anachronistischen Gesellschaftsentwurf bedeutet.

Moritz geriet ins Räderwerk der "Essenz" und kam seiner Exekution mit dem Selbstmord zuvor. Hier geistert er in der Auseinandersetzung mit Mia (die ihn liebt) herum als seine "ideale Geliebte". Doch es zählen nur noch Vernunft und Körper, "Sauberkeit und Sicherheit", und wer nicht dem "gesunden Menschenverstand" huldigt, "ist krank".

Klingt nach dem Hygiene-Begriff der Nazis oder der NPD, entstammt aber dem berüchtigten "Hexenhammer" des Dominikanermönchs Heinrich Kramer. Hier heißt ein Gerichts-Zuträger, und Journalist so. Er sucht Mia mit jesuitischer Demagogie zum Geständnis zu bringen. Als Hexe wird Mia zwar nicht wortwörtlich, so doch als Frau vor Gericht gestellt, die einen Anspruch auf das Leiden als Privates und auf eigenständiges Denken stellt und damit das System untergräbt.

Da man auch die kleinste Formulierung umdeuten kann in einen Umsturzplan oder die Bildung einer terroristischen Zelle, hat Mia keine Chance. Natürlich ist aus humanen Gründen die Todesstrafe tabu, dafür lautet die Höchststrafe Einfrieren ("Kosten und notwendige Auslagen trägt der Angeklagte"). In letzter Minute erlässt der höchste Gerichtshof eine "Begnadigung": Leben in der Quarantäne permanenter Aufsicht, verbunden mit einer hübschen Gehirnwäsche.

Anja Gronau hat in der hörsaalartigen Bühne von Sabine Kohlstedt (sie verantwortet auch die treffenden Kostüme) mit dem sechsköpfigen Ensemble in geschickter Regie ein Kammerspiel entwickelt, das über die Bühnen ziehen könnte, wären da nicht grundlegende Mängel.

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