Choreograf John Neumeier: „Ich mache alles aus Liebe“

John Neumeier, seit 40 Jahren Choreograf in Hamburg, wird 70 Jahre alt und wünscht sich vom Nachwuchs mehr Eigensinn.

Herr Neumeier, Sie sind der einzige Choreograf weltweit, der so lange an einem Ort geblieben ist. Sie hatten interessante Angebote und hätten auch woanders arbeiten können. Was hat Sie in Hamburg gehalten?

Neumeier: Ich bin so lange in Hamburg geblieben, weil ich immer das Gefühl hatte, in Bewegung zu sein und weiterzukommen. Als ich angefangen habe vor rund 39 Jahren, hatte ich nicht einmal eine Sekretärin, sondern nur eine Halbtagssekretärin und ein kleines Büro, das ich mit dem ersten Ballettmeister geteilt habe. Heute haben wir ein Gebäude für uns. Ich bin nicht gefangen in Hamburg, sondern habe inzwischen mit fast allen Compagnien der Welt gearbeitet.

Sie haben das Ballettzentrum aufgebaut, das Bundesjugendballett initiiert, kümmern sich um Ihre Stiftung, choreografieren als aktiver Künstler selber, leiten als Intendant das Hamburger Ballett und touren durch China. Wie schaffen Sie das alles eigentlich?

Neumeier: Fragen Sie mich nicht. Erstmal habe ich ein sehr gutes Team, sonst wäre es nicht möglich, so viele Dinge zu tun. Zum anderen liegt es daran, dass ich es eigentlich aus Liebe mache. Alle Arbeit basiert auf einem Kern.

Was ist das für ein Kern?

Neumeier: Dieser Kern ist für mich die Kreation. Ich bin zuerst Choreograf. Alles andere, was ich bin, dreht sich darum. Ich bin Ballettdirektor, weil ich Tänzer brauche, um zu choreografieren. Und weil ich ein eigenes Orchester brauche, mit dem ich instrumentieren kann. Deswegen auch die Schule. Die Kreativität soll weitergehen.

Die Tänzer im Bundesjugendballett choreografieren selbst. Wie weit mischen Sie sich ein?

Neumeier: Ich mache Vorschläge, soweit es meine Zeit erlaubt. Aber ich kontrolliere sie nicht. Wenn man mit jungen Menschen kreativ arbeitet, kann man nicht sagen, bitte mache es so oder so. Man kann nur sagen: Wenn du das meinst, wäre es nicht besser, dies etwas zu kürzen oder länger zu machen. Mich macht dieses Jugendballett um Jahrzehnte jünger, weil ich es toll finde. Ich habe das Gefühl, es funktioniert in meinem Sinne, aber ohne mich.

Wie ist es um den Tanz weltweit bestellt?

Neumeier: Ich glaube, es ist ein interessanter Zeitpunkt für den Tanz. Technisch gesehen gibt es weltweit ein viel höheres Niveau als zu der Zeit, als ich angefangen habe vor 40 Jahren. Zweitens gibt es mehr Möglichkeiten und mehr Compagnien weltweit, auch wenn in Deutschland kleinere Compagnien zugemacht werden.

Und der Nachwuchs?

Neumeier: Bei jungen Choreografen ist die reine Bewegung erstaunlich. Was mir aber fehlt, sind wirklich persönliche Handschriften. Da wir heute über Internet und Youtube alles sofort sehen können, wissen wir auch, wie alles aussieht in der Welt. Das führt ein bisschen dazu, dass alles etwas gleich aussieht. Junge Menschen, die besser mit diesen Dingen umgehen als ich es kann, haben so viele Referenzen, so dass es ganz schwer ist, ihren eigenen Erfindungen und ihrer Persönlichkeit eine Form zu geben.

Wo nehmen Sie selbst Ihre Kreativität her?

Neumeier: Es ist natürlich die Aufgabe, für die Compagnie zu sorgen, die wie eine große Familie ist. Ich will ihr Werke geben, die exklusiv sind, damit wir als Compagnie gefragt sind und Tourneen machen. Auf der anderen Seite gibt es eine innerliche Liebe, Dinge zu machen, die für mich wichtig sind.

Wie weit planen Sie voraus?

Neumeier: Ich habe nie gedacht: Ich bin jetzt in Hamburg engagiert, jetzt bleibe ich ungefähr 40 Jahre. Ich hatte anfangs einen Vertrag über drei Jahre. Da habe ich an jedem Tag, in jedem Monat und Jahr versucht, ein Projekt zu machen, so gut ich kann. Wenn die Projekte gut sind, habe ich die Möglichkeit, etwas anderes zu verlangen. Das Spiel ist jahrelang so gegangen. Meine eigene Kreativität ist, so glaube ich, ein Mysterium. Ich habe verhältnismäßig viele Ballette kreiert, etwa 140, die meisten abendfüllend. Aber ich möchte mich nicht fragen, wie das möglich ist. Ich hätte Angst, dass es nicht mehr möglich wäre, wenn ich mir diese Frage selber stelle.

Sie sind jetzt 70. Für das 40-jährige Jubiläum haben Sie alle Hände voll zu tun. Sie verfolgen neue Projekte, kooperieren mit Compagnien in China und Dänemark. Wollen Sie nicht mal etwas kürzertreten?

Neumeier: Nein, noch nicht (lacht), nein.

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