Dietrich Hilsdorf: Vom Provokateur zum Regie-Star

Bonn. Verdis „Traviata“ in Köln, „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach in Essen, in Bonn „Der Wildschütz“ und demnächst „Der Fliegende Holländer“: Kein anderer Regisseur hinterlässt so viele Duftmarken in Opernhäusern an Rhein und Ruhr wie Dietrich Hilsdorf (63).

Von Presse und Publikum wird der gebürtige Darmstädter gefeiert, bei der Umfrage der Opernsaison 2010/20111 sahen Kritiker seine Deutung von Monteverdis „Krönung der Poppea“ in Köln sogar als beste Inszenierung in NRW.

Das war nicht immer so: Vor mehr als 20 Jahren galt Hilsdorf als Erzprovokateur und Bürgerschreck und bescherte dem Aalto-Opernhaus mit einem sexuell aufgeladenen und antiklerikalen „Don Carlos“ einen lautstarken Theaterskandal. Erst später wichen die Buh-Orkane Beifallsstürmen, und daraus wurde die erfolgreichste Produktion der bundesweit renommierten Essener, deren Intendant Stefan Soltesz auch bei Angriffen zu ihm gehalten hat.

Während Hilsdorf früher nach den Premieren lauten Protest über sich ergehen lassen musste, wurde er kürzlich nach seiner aktuellen Regietat in Essen, „Hoffmanns Erzählungen“, wie ein Star gefeiert. Reduziertes Bühnenbild, ein nahezu nacktes Theater, Kargheit, Konzentration und grandiose Sängerdarsteller. Hilsdorf ist ein Mann der Widersprüche: Früher ein Klassik-Zertrümmerer, gleichzeitig ein Theatermacher, der sich nicht gegen kommerzielle Zwänge sperrt und nach Quoten schielt.

Bereits 1999 setzte er in Bremen und später im Kölner Musicaldome das Musical „Jekyll and Hyde“ in Szene und wurde dafür zum Regisseur des Jahres gekürt. „Man muss auch an die Zuschauer denken“, lenkt er ein, „zumal bei Musicals, die 12 000 Zuschauer pro Woche benötigen.“ Manche erkennen in seinen letzten Werken eher Altersmilde. Der alte Kämpfer, Vielarbeiter und Theater-Besessene, der mit zupackender Hand und psychologischer Messerschärfe Klassiker deutet und mit provokanten, sinnlichen Tableaus keinen Zuschauer kalt lässt, sagt: „Ich gebe immer noch Gas und will überraschen.“

Er sei aber nicht mehr so rechthaberisch wie in den 80er und 90ern. „Die Geschichte der liebeshungrigen Kurtisane Traviata habe ich in Köln so erzählt, dass auch meine Mutter Spaß daran hätte.“ Zeiten ändern sich, und Regisseure ebenfalls. Er sei nun mal 63, als Regisseur und Ehemann. „Wenn ich mit meiner Frau heute genauso Sex hätte wie vor 30 Jahren, käme ich mir verdammt blöde vor.“ Dass er sich immer noch verausgabt und für reichlich Zündstoff sorgt, beweist er in der intelligenten Art, wie er alte Stoffe in unsere Zeit verlegt. Wie vor einigen Jahren, als er die „Tosca“ in Düsseldorfs Rheinoper als realistischen Psychokrimi in der römischen Engelsburg herausbrachte.

Ähnlich vor einem Jahr mit der „Poppea“ in der Kölner Gerling-Kantine. In einer Lasterhöhle-Kulisse entlarvt Hilsdorf in dieser Oper aus dem Frühbarock die Machtspiele einer kalten Diktatur. Die Kantine, die nur als Ausweichspielstätte der Kölner diente, mutiert bei Hilsdorf zum Schaltzentrum einer modernern Wirtschaftsmacht.

Hilsdorf — aktuell, aufregend und überall. Er, heute ein Wahl-Berliner, sieht sich in der Tradition von Walter Felsenstein (1901-1975), der seit 1947 in der Berliner Komischen Oper alte Schinken als realistische Musikdramen herausbrachte. „Ich und der Bühnenbildner lesen das Original-Libretto laut vor und suchen nach Zündstoff.“ Platte Aktualisierung lehnt Hilsdorf hingegen immer ab. Für Stoffe aus dem 19. Jahrhundert gilt: „Handys auf der Opernbühne sind unerträglich.“ Er setzt eher auf rasante Komik und entfesselt Psychodramen in Tragödien.

Bei Opern von Richard Wagner und Richard Strauss winkt er ab. Auch hier Widersprüche. Hilsdorf inszenierte zwar im Aalto die „Walküre“, sagt aber: „Strauss’ und Wagners Musik und Dichtungen mag ich nicht.“ Darin gäbe es für ihn zu wenig knisternde Psychologie und widerspreche seinem Credo, das er frei nach Bertolt Brecht formuliert: „Der Gegenstand, der auf der Bühne verhandelt wird, ist der Mensch.“

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