Großes Tanztheater: Neumeiers „Liliom“

Hamburg (dpa) - In Ferenc Molnárs Drama „Liliom“, einer bittersüßen Liebesgeschichte, hat Hamburgs Ballettchef John Neumeier den Stoff für seine neueste Kreation entdeckt. Kein Geringerer als der Filmkomponist und dreifache Oscarpreisträger Michel Legrand (79) schrieb die Musik.

Die Uraufführung von „Liliom“ in der Hamburger Staatsoper wurde zum Triumph. Das galt auch für die Hauptdarsteller, Carsten Jung in der Titelrolle und den Gaststar Alina Cojocaru vom Londoner Royal Ballet. Ihre Szene mit dem toten Liliom wird das Publikum so bald nicht vergessen. Neumeier (69) wagte es, nicht nur musikalisch mit zwei Orchestern, sondern auch emotional auf die Tube zu drücken. Überschwänglich dankte ihm das Publikum dafür, einige Buhrufe gingen im Jubel unter.

Molnárs (1878-1952) Theaterstück „Liliom“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem Rummelplatz-Hallodri Liliom und der Serviererin Julie. Legrand komponierte eine Partitur für Orchester und NDR-Bigband mit Anklängen an Leonard Bernstein und George Gershwin. Sie bringt Swing und Musical-Schmiss auf Ferdinand Wögerbauers Bühne zwischen Himmel und Erde.

Die Sterne der Hoffnung sind erloschen. Über Neumeiers „Liliom“ hängt der Himmel voller nackter Glühbirnen. Und der Nebel der trüben Depressionszeit. Das Stück spielt nicht nur auf dem Jahrmarkt, sondern nach Lilioms Freitod auch im Jenseits. Dort erlaubt man ihm, nochmals auf die Erde zu Julie und seinem Sohn Louis (Aleix Martínez) zurückzukehren. Die märchenhaften und magischen Züge seiner Ballettlegende betont Neumeier noch durch die Figur des Luftballon-Mannes: Sasha Riva gibt ihm die Züge eines Himmelsboten und drahtziehenden Dämons, der durch die herzergreifende Geschichte führt.

Liliom steht zwischen zwei Frauen, der Karussellbesitzerin Frau Muskat (Anna Polikarpova) und Julie. Er verlässt Julies wegen die eifersüchtige Geliebte und seinen Job. Arbeitslos und unzufrieden mit sich, schlägt er die schwangere Freundin. Carsten Jung zeichnet einen Mann, dem Gefühle Angst machen. Seine aggressiven Ausbrüche nimmt Julie aus Liebe hin. Eindringlich zeigen er und Alina Cojocaru im Pas de deux auf der Parkbank die Unfähigkeit, sich auszusprechen. Ihre Gedanken drücken sie stattdessen im Tanz aus, kehren ihr Inneres nach außen: Zuerst allein, dann gemeinsam.

Den Dialog der Körper unterstreichen die beiden Orchester unter dem Dirigenten Simon Hewett. Die NDR-Bigband auf der Bühne verkörpert den Jahrmarkt, während die Hamburger Philharmoniker Julies Seelenmusik spielen. Neumeier kontrastiert die intimen Familienszenen mit Show-Elementen aus dem amerikanischen Musical, bringt aktuelle Sozialkritik mit Anspielungen auf die 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Eine durch Schlagzeug und Orchester eruptiv gesteigerte Männer-Gruppen-Szene vor einem Beschäftigungsbüro illustriert die Verzweiflung der Arbeitslosen, deren Körper am Schluss wie Müll weggeschippt werden.

Der durchaus riskante Coup, „Liliom“ auf die Tanzbühne zu bringen, ist John Neumeier geglückt: Gerade weil er und seine Protagonisten sich nicht scheuen, Züge des altmodisch-sentimentalen Molnár-Stücks zu erhalten, sie eigenständig und fantasievoll mit unbefangen amerikanischem Kolorit zu interpretieren und so ehrlich wie gefühlsintensiv auszuspielen. Ihre Botschaft lautet: In dunklen Krisenzeiten braucht es das Licht der aufrichtigen und verständnisvollen Liebe.

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