Kein Entkommen aus der Hölle der dicken Kinder

Hannover (dpa) - Sie tragen hautfarbene Fettanzüge, aus Kissen und Schaumstoff gebastelt, und sehen lächerlich darin aus. Die fünf Schauspieler auf der Cumberlandschen Bühne des Schauspiels Hannover stellen übergewichtige Kinder dar.

Die hässlichen Kleinen wurden von ihren Eltern in ein Kurheim in den Bergen abgeschoben. Hier absolvieren sie schwitzend ein absurdes Programm von Liege- und Sonnenkuren, nachts stehen ärztlich verordnete Exzesse mit Kuchen und Knutschen auf dem Programm.

„Es geht nicht um Schönheitswahn oder um Dicke, es geht um menschliches Leben. Wie kann ich leben, ohne mich umbringen zu müssen? Wie schaffe ich den Tag?“, sagt die Wuppertaler Autorin Anne Lepper über ihr Stück „Seymour oder ich bin nur aus Versehen hier“, das am Sonntag uraufgeführt wurde. Das Publikum feierte die Premiere nach 80 Minuten mit langanhaltendem Applaus.

Anne Lepper gehört zu den großen Hoffnungen des Gegenwartstheaters. Im vergangenen Jahr hatte sie beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens den Werkauftrag für das Schauspiel Hannover gewonnen. Erst vor wenigen Tagen war ihr Stück „Käthe Hermann“ in Bielefeld uraufgeführt worden.

In „Seymour“ fühlen sich die fünf Kinder aussortiert, sie sehnen sich nach Akzeptanz, Liebe, einer Aufgabe und nach Erlösung. Das Lachen bleibt den Zuschauern schon bald im Hals stecken, etwa wenn ein Mädchen nach dem Selbstmord eines Kindes sagt: „Ich fühl mich immer ein bisschen gesünder, wenn einer stirbt. Siehst du nicht manchmal auch gern einen Sarg?“

Alle warten auf den ominösen Doktor Bärfuss, der sie aus der Hölle oberhalb der Baumgrenze befreien soll. Es gibt wenig Handlung, kaum Entwicklung der Figuren. Regisseurin Claudia Bauer schafft es dennoch, dem Stück einen Drive zu geben. Wie ein ritueller Tanz muten die Übungen im Sanatorium an, die Insassen singen im Chor seltsame Volkslieder, die nächtlichen Kuchen-Exzesse erinnern an Schwarze Messen. „Mich hat vor allem interessiert, dass das Stück kein well-made-play ist, sondern ein Steinbruch“, sagt Bauer.

Thomas Manns „Zauberberg“, William Goldings „Herr der Fliegen“, daneben der Kinderbuchklassiker „Peter Pan“ und die Geschichten vom „Kater Mog“ - „Seymour“ ist mit zahlreichen literarischen Anspielungen gespickt. Die bereits mit mehreren Förderpreisen ausgezeichnete Autorin arbeitet assoziativ, eine schnelle Deutung ist nicht möglich. Auf einem OP-Tisch mehr tot als lebendig liegt der beinahe magersüchtige Sebastian. Die fünf Fetten himmeln ihn als ihr Ideal an. Aber dieser potenzieller Erlöser löst die Verheißung ebenso wenig ein wie Doktor Bärfuss. Sebastian verkörpert der Tänzer Wesley D'Alessandro, der auch die Choreografie des Stücks entwickelte.

Es wird spannend zu sehen sein, was die Theaterautorin in Zukunft für die Bühne schreiben wird. Ihre assoziative Sprache berührt. Als Vorbild nennt die Absolventin des Berner Literaturinstituts übrigens keinen großen Dramatiker, sondern einen Zeichner und Kinderbuchautor: Maurice Sendak, Schöpfer des Klassikers „Wo die wilden Kerle wohnen“.

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