Neue Leiterin des Berliner Theatertreffens: "Ist das noch unter Kontrolle?"

Berlin. Yonne Büdenhölzer, Leiterin des Berliner Theatertreffens, über die Auswahl 2012.

Frau Büdenhölzer, Sie kündigen ein Theatertreffen der Extrempositionen an — wie extrem?

Büdenhölzer: Die von der Jury ausgewählten Inszenierungen stehen inhaltlich und stilistisch für eine riesige Bandbreite an Formen, Ästhetiken und Spielweisen. Eine Extremposition zeigt der zwölf-stündige Ibsen-Abend „John Gabriel Borkman“ von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdsten (Volksbühne, Berlin). Der Wechsel zwischen strenger, formaler Reduktion des Textes und der Spielweise mit Improvisation und Performance-Elementen schafft eine Art Theater, die ich so noch nie erlebt habe.

Inwiefern?

Büdenhölzer: Dort werden Grenzen überschritten, die im Theater selten so stark eingerissen werden. Zum Beispiel die Auflösung von Zuschauer- und Bühnenraum. Es kam auch zu extremen Konfrontationen, wie „Kistenschlachten“ — nicht Kissen — zwischen Performern und Zuschauern. Ich fragte mich manchmal: Ist das alles noch unter Kontrolle?

Was passiert denn da?

Büdenhölzer: Jede Vorstellung ist anders. Es gibt eine Szene, in der Vegard Vinge bestimmt 45 Minuten lang nackte Performer mit Ketchup einsprüht und abknallt. Das ist ein starkes Bild, das an den Amokläufer von Norwegen erinnert. Vinge baut auch häufig Szenen mit Fäkalien ein. Es ist ein Spiel mit dem Zuschauer, der aufgefordert wird, eine Haltung einzunehmen. Manche Zuschauer interagieren, andere gehen eben. Es gibt ein Kommen und Gehen in der Vorstellung.

Das ist nicht die einzige Inszenierung, die sehr lang ist. Nicolas Stemanns „Faust I + II“ (Thalia Theater) dauert mehr als acht Stunden, Alvis Hermanis’ „Platonov“ vom fast fünf Stunden (Wiener Burgtheater) und der Eröffnungsabend „Gesäubert/Gier/4.48 Psychose“ von Johan Simons gut drei Stunden (Münchner Kammerspiele). Zeigt das diesjährige Theatertreffen die längsten Inszenierungen seiner Geschichte?

Büdenhölzer: Ich habe jetzt nicht nachgerechnet, aber ich würde sagen: ja. Die zehn eingeladenen Inszenierungen inklusive Wiederholungen dauern insgesamt 135 Stunden und 20 Minuten.

Ist der Trend zum Fernsehformat, zum 90-Minuten-Stück vorbei?

Büdenhölzer: Nein, diese Formate gibt es weiterhin, zum Beispiel René Polleschs „Kill your Darlings!“ (Volksbühne, Berlin). Es ist ein Theatertreffen der ganz kurzen und der ganz langen Inszenierungen. Marathon-Inszenierungen hat es immer gegeben. Neu ist eher, dass der Zuschauer frei entscheidet, wann er kommt und geht oder eine Pause braucht. Generell frage ich mich schon, ob die langen Inszenierungen auch eine Antwort der Theatermacher auf die Beschleunigung unserer Gesellschaft sind.

Ein Drittel der eingeladenen Inszenierungen stammt von Theaterkollektiven. Woher kommt dieser Trend?

Büdenhölzer: Es gibt gerade bei jüngeren Theatermachern die Tendenz, sich zu Kollektiven zusammenzuschließen, Arbeitsprozesse gemeinsam zu gestalten. Der Glaube an eine kollektive Intelligenz, vielleicht auch weg vom Genie-Kult, spielt eine Rolle.

Regisseure wie Andrea Breth, Luc Bondy, Claus Peymann und Frank Castorf sind nicht mehr eingeladen. Vollzieht dieses Theatertreffen den Generationswechsel?

Büdenhölzer: Es gibt definitiv einen Generationswechsel. Es wächst eine neue Generation von Theatermachern nach, und diese wird von der Theatertreffen-Jury auch wahrgenommen.

Braucht das Theatertreffen keine große Namen?

Büdenhölzer: Die gibt es ja. Johanna Wokalek kommt. Auch Peter Simonischek, Martin Wuttke, Sophie Rois, Sandra Hüller, ChrisTine Urspruch.

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