Raoul Schrott: Homers Ilias wirkt hier wie ein Kopfkino

Literatur: Raoul Schrott präsentiert sein Oeuvre.

Düsseldorf. Raoul Schrott ist ein literarischer Tausendsassa. Seit einem knappen dreiviertel Jahr vermag es der österreichischer Universalpoet, die Ilias, dieses 3000 Jahre alte Heldenepos, das weitgehend als Lesestoff aus dem Bewusstsein gedrängt ist und in den Regalen verstaubt, wieder durch die Feuilletons zu treiben. Dabei lag seine Neuübersetzung in "Klardeutsch" bis gestern überhaupt noch nicht als Buch vor.

Der Grund für die Aufregung ist quasi ein Nebenprodukt der Recherchearbeit. Der 44-Jährige war für seine Übersetzung in die Welt des Epos eingetaucht - und als er wieder auftauchte, hatte er nicht nur eine Neufassung der Ilias fertig, sondern auch eine neue Erkenntnis: Troja lag nicht dort, wo der deutsche Kaufmann Heinrich Schliemann im 19. Jahrhundert den Kampf, die Helden und das hölzerne Pferd vermutete, nicht am Eingang der Dardanellen, sondern Troja lag in der kilikischen Hauptstadt Karatepe an der türkisch-syrischen Grenze, also rund 800 Kilometer weiter südlich.

Homer ist für Raoul Schrott auch kein blinder Dichter aus der Gegend von Smyrna (heute Izmir), sondern ein griechischer Schreiber im Dienst des assyrischen Königs. "Die Reaktionen auf diese Überlegungen haben mich selbst völlig überrascht", sagt Schrott. Plötzlich habe er sich dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, an den Festen des Abendlandes zu rütteln.

Dabei hatte alles ganz anders kommen sollen. Schrott sitzt unmittelbar vor der Lesung in Plauderlaune im Irish Pub neben dem Heine Haus. Seit zehn Jahren lebt Schrott selbst in der Gegend von Cork im Südwesten Irlands. "Eigentlich wollte ich die Odyssee neu übersetzen", sagt er.

Doch der Verlag winkt ab: Gibt es schon in Klardeutsch. Stattdessen soll es die Ilias sein. Schrotts erste Reaktion: "Pfuideibel!" Er habe sofort an diese Reihung von Schlachten in diesem unsäglichen Winckelmann-Deutsch denken müssen. Trotzdem setzt er sich an den Text.

Als Auftragsarbeit für den Hessischen Rundfunk. Schrotts Plan: Ein paar wenige Stunden am Tag den Homer übersetzen - den Rest des Tages eigene Prosa schreiben. Doch dann packt ihn der Originaltext. Übersetzen heißt für ihn ab jetzt auch neu erfinden, und dazu muss man wissen was.

Mit einer entsprechenden Erwartungshaltung schienen die rund 150 Zuhörer in die Literaturhandlung Müller und Böhm um Heine Haus in Düsseldorf zu Schrotts Auftakt-Lesung aus seiner Ilias-Übersetzung zu kommen. Und erlebten vor allem eins: Einen unwiderstehlichen Vorleser, dem es gelungen ist, in seiner Neufassung der Ilias eine Sprache zu finden, in der die Szenen plastisch vor Augen treten.

Die Ilias als Kopfkino. Scheinbar spielend gelingt es ihm, der Welt der Götter und Helden mit der Sprache der Gegenwart zu begegnen. Gebannt lauschen die Zuhörer diesem Mann, der mit seinen zupackenden Händen und dem gewaltigen Schädel selbst gut in diese Bilder gepasst hätte.

Plötzlich wird aus dem Schulstoff eine vorstellbare Szene. Wie Hera - Zeus’ Gattin - ihren Plan zur Zerstörung von Ilion gefährdet sieht und einen handfesten Ehestreit mit Zeus anzettelt. Der erst durch das Lachen über Hephaistos’ Hinken beruhigt wird. Hephaistos war klein und hässlich auf die Welt gekommen, daher hatte ihn Hera, seine Mutter, vom Olymp geschleudert.

Er fiel dabei ins Meer bei der Insel Lemnos. Seither war er lahm.Menschliches, Allzumenschliches. Und im Hörbuch von Manfred Zapatka so vorgetragen, dass die Götter wieder eine Lebenswirklichkeit in der heutigen Zeit haben.

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