Sensationserfolg für einen hochaktuellen „Tartuffe“

Berlin (dpa) - Star-Regisseur Michael Thalheimer (55) lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass seine Version des vor etwa 350 Jahren uraufgeführten Komödienklassikers von Molière (1622-1673) auf die Gegenwart zielt.

Die kühn gekürzte und textlich pointierte Fassung des „Tartuffe“ wird an der Berliner Schaubühne denn auch überwiegend in zeitlosen Kostümen gespielt. Einen besonderen Akzent setzt dabei Thalheimers Lieblingsbühnenbildner Olaf Altmann.

Die Zuschauer blicken auf eine graue Wand, die fast bis zur ersten Parkettreihe reicht. In dieser Wand gibt es in luftiger Höhe eine Aussparung von etwa zehn mal zehn Metern, die ungefähr drei, vier Meter in die Tiefe reicht. Die Geschichte des gerissenen Betrügers, der Frömmigkeit vortäuscht, doch in Wahrheit der Frömmelei frönt, spielt sich allein in diesem kupferfarben ausgeschlagenen kleinen Raum, einem beredten Symbol geistiger Enge, ab.

Das Verrückte der vorgeführten Welt wird besonders dadurch deutlich, dass der Spielraum sich auf schwindelerregende Weise um die eigene Mittelachse dreht, die Decke also plötzlich eine Seitenwand ist, dann der Boden. Klar, dass die Figuren jeden Halt verlieren. Die Schauspieler jedoch nicht. Sie bewahren Haltung und entwerfen Dank der oft gereimten Dialoge voll bitter-schwarzem Humor präzise Charakterstudien.

Lars Eidinger brilliert in der Titelrolle. Sein Oberkörper, die Arme, die Hände, sogar die Finger sind mit schwarzen Schriftzeichen bedeckt. Eidinger gelingt dank ausgefeilter Sprechkunst und Körpersprache das Porträt eines Fanatikers, der alle lustvoll Lebenden mit seiner Intoleranz terrorisiert. Im Verlauf des so kurzen wie kurzweiligen Abends wird dieser Mann zum typischen Vertreter jenes heutzutage weit verbreiteten Menschenschlags, der im Namen angeblicher politischer Korrektheit alles kritische Denken unterdrücken will.

Neben Lars Eidinger begeistern populäre Akteure wie Judith Engel, Regine Zimmermann und Ingo Hülsmann. Auch sie setzen auf genaue Gesten und Sprechkunst. Dank ihrer Präzision, die alles Alberne oder Sentimentale ausschließt, fasziniert Thalheimers Version des Stückes als scharf konturierte Spiegelung einer Gesellschaft, die ihr Heil in uniformer Moral und stromlinienförmiger Anpassung sucht. Ohne dass dies gesagt wird, kommen einem Assoziationen etwa zum NSA-Skandal in den Sinn. Molières grundsätzliche Kritik an einem ganz auf materiellen Wohlstand ausgerichteten Leben wird dadurch besonders deutlich.

Regisseur Michael Thalheimer nutzt die moderne, alle oberflächlichen Effekte vermeidende Übersetzung des Stückes von Wolfgang Wiens. Der im Vorjahr verstorbene Dramaturg, der lange Jahre am Burgtheater in Wien gearbeitet hat, erarbeitete sie 1996. Thalheimer und sein Team haben die wirkungsvolle Lakonie von Wiens vortrefflich in packende Bilder übertragen. Die überwiegende Mehrheit des Publikums brach am Ende der Premiere am Freitagabend in geradezu frenetischen Beifall aus. Derart viele Bravo-Rufe und starker Jubel war in Berlin schon lange nicht mehr bei einer Schauspiel-Premiere zu erleben.

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