Theatertreffen: Extrem verzweifelt und aggressiv

Berlin (dpa) - Ungefähr bei 200 wird das Theatertreffen-Publikum unruhig. „Aufhören!“, schreien einige Zuschauer. Doch das rothäutige Monster mit den Krallenfingern zählt unbeirrt weiter.

Mit seltsam verzerrter Stimme und scheinbar unendlich viel Zeit. „201, 202, 203...“ Als es bei 309 angekommen ist, verlässt der erste Besucher den Saal.

Bei 500 brandet Applaus auf. Viele hatten offenbar gehofft, dass mit dieser runden Zahl das Zählen endlich ein Ende hat. Aber das Wesen im Nadelstreifenanzug macht weiter. Bei 812 versucht das Publikum, die Gruselgestalt durch Klatschen, Johlen und Trampeln zu stoppen. Nichts passiert. Vielleicht ist bei 1000 Schluss? Nein.

Erst nach anderthalb Stunden tritt das Ungeheuer am Samstag vorerst ab. Der Blick ist nun frei auf die gigantische Papp-Kulisse, die die deutsch-norwegischen Performance-Künstler Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdsten im Berliner Prater für ihren 12-stündigen Ibsen-Marathon „John Gabriel Borkman“ aufgebaut haben.

Als eine der zehn „bemerkenswertesten“ Inszenierungen der Saison wurde das unter anderem von der Berliner Volksbühne produzierte Stück zum 49. Theatertreffen deutschsprachiger Bühnen eingeladen. Bis kurz nach 04.00 Uhr morgens dauert das beeindruckende Spektakel, bei dem Regisseur und Performer Vinge die erstaunlich gelassenen Zuschauer mit aggressiven, Theatergrenzen überschreitenden Aktionen provoziert.

Auf dem Boden liegend pinkelt sich ein Schauspieler selbst in den Mund. Er entleert sich auf die Bühne und verschmiert seine Exkremente zwischen den Händen, läuft so durch das Publikum und reibt sich den Kot zuletzt ins Gesicht. Was das alles mit Ibsen zu tun hat, bleibt wohl für viele ungeklärt.

Bereits am Freitagabend war das Festival mit harter Kost eröffnet worden: Die Münchner Kammerspiele zeigten zum Start der „Bühnen-Olympiade“ die Sarah-Kane-Trilogie „Gesäubert/Gier/4.48 Psychose“. Regisseur Johan Simons inszenierte die drei letzten Stücke der britischen Autorin Kane, die sich 1999 mit 28 Jahren das Leben nahm. Die Werke entstanden zwischen und während depressiver Schübe, an denen die Dramatikerin litt. Entsprechend düster und voller Gewalt- und Todesfantasien sind die Stücke.

Hervorragende Darsteller, darunter auch Sandra Hüller („Requiem“), bewältigen die enormen Textmassen. Ohne Handlung und oft eher einer szenischen Lesung ähnelnd, werden Menschen gezeigt, die völlig verzweifelt sind. Verletzte Seelen mit verletzten Körpern fügen sich gegenseitig immer noch mehr Leid und Schmerz zu.

Noch bis zum 21. Mai messen sich die Theatermacher in Berlin. Der erste Preis des Festivals wurde schon vergeben. Die Schauspielerin Sophie Rois erhielt den mit 20 000 Euro dotierten Theaterpreis Berlin. „Ihr Spiel und ihre Stimme sind rau und zart, feinsinnig und vehement zugleich, stets spröde und bezaubernd“, urteilte die Jury über die Österreicherin.

Am Ende des Festivals wird der mit 5000 Euro dotierte Alfred-Kerr-Darstellerpreis für den besten Nachwuchsschauspieler vergeben. Jurorin ist Nina Hoss. Mit dem mit 10 000 Euro dotierten 3sat-Preis werden Künstler ausgezeichnet, die für eine richtungsweisende, innovative Leistung stehen.

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