Die verrückte Königin des Barock

Simone Kermes polarisiert und bezaubert gerade durch ihren grellen Kunstgesang.

Düsseldorf. Flammend rotes, fast orangefarbenes Haar. Herausfordernd aufgeworfene Lippen. Dazu eine betonte Taille, die den unvorbereitet des Weges kommenden Passanten — so geschah es dem Verfasser vor einiger Zeit in Dortmund — wie elektrisiert stehen bleiben lässt: Das muss Simone Kermes sein! In jeder noch so bunten Fußgängerzone ist sie ein absoluter Hingucker. Und da Klassik-Fans eigentlich Leute sind, die auf ein auffälliges Äußeres keinen großen Wert legen, darf der musikalische Erfolg von Simone Kermes doppelt hoch verbucht werden. Sie ist wirklich großartig.

Der vorlaute Auftritt passt zu ihrer musikalischen Aussage. Die „Crazy Queen of Baroque“ — ein Titel, zu dem sich die Sängerin inzwischen selbst bekennt — ist amtierende Weltmeisterin im Glucksen, Gluckern und Gurren. Und zwar in höchster Sopranlage. Eine vokale Ausdruckstänzerin ohne Furcht vor Stratosphären-Koller und Koloratur-Rouladen. Ihre Fans lieben sie dafür. Aber auch die Fachwelt hat keine Vorbehalte. Tatsächlich steht die geborene Leipzigerin, die privat zünftig sächselt, zu ihrer Antipathie gegen neutralen Schöngesang und temperamentloses Gesäusel.

„Das britische Klangideal innerhalb des Barock, dem alle folgen und wo alles so ausgeglichen hübsch und ebenmäßig klingt, finde ich fürchterlich“, sagt sie. Und bringt damit die Antwort auf die Frage nach ihrem Erfolgsgeheimnis erschöpfend und gewitzt auf den Punkt: „Ja, weil ich’s halt nicht so langweilig mache wie die anderen.“

Gefördert wurde sie anfangs von der Krimi-Autorin und Händel-Domina Donna Leon (mit der sie sich inzwischen überworfen hat). Inzwischen liegen von ihr sieben Solo-Alben vor. Auf allen bewährt sie sich als konkurrenzlos lavaspuckende Kolorateuse. Das Album „Lava“ war denn auch ihre bisher programmatischste — und vielleicht beste CD.

Meist singt Kermes nicht einfach nur bekanntes Händel- oder Vivaldi-Repertoire, sondern angelte sich mit Claudio Osele, dem früheren Berater von Cecilia Bartoli, einen Zuarbeiter und wissenschaftlichen Ausgrabungskünstler fürs barocke Hinterland. So gelingen ihr immer wieder großartige Entdeckungen. Komponisten wie Joseph Martin Kraus, Leonardo Leo, Bononcini oder Broschi wurden erst durch sie wieder richtig ernst genommen.

Allerdings hat sich die Bartoli für den Wechsel ihres ehemaligen Gefährten Osele, so erzählt sich jedenfalls die Branche, bitter gerächt. Der Ehrgeiz des „Lava-Albums“ von Simone Kermes bestand nämlich darin, möglichst viele Erstaufnahmen zu bieten. Es ist derselbe Anspruch, von dem auch Bartolis zeitgleich entstandenes Album „Sacrificium“ getragen war. Was geschah hinter der Linie? Der Cembalist von Simone Kermes, Sergio Ciomei, wechselte heimlich von der einen zur anderen Interpretin. Und nahm Insiderkenntnisse mit. Wodurch Bartoli hübsch die Nase vorn behielt, weil sie wusste, was die deutsche Rivalin plant. Inzwischen soll das Kriegsbeil zwischen den beiden Diven wieder begraben sein.

Die polarisierende Kraft von Simone Kermes aber gehört nach wie vor zum Charme der Sängerin. Zurückhaltung um des guten Geschmacks willen mag ihre Sache nicht immer sein. Wenn Kermes mit Liebesliedern von Vivaldi bis Bernstein ein „Solokonzert 440 Hz“ ankündigt, darf man bedenkenlos davon ausgehen, dass sie dem Stimmgabel-Kammerton auf unerhörte Weise einheizen wird. Sie ist der Auffassung: „Wenn im Kopf was nicht stimmt, dann stimmt auch was mit der Stimme nicht.“ Die Klassik-Künstlerin mag, wenn der Ausdruck erlaubt ist, eine verrückte Nudel sein. Doch das passt bestens zum Barock-Repertoire, dem sie sich verschrieben hat, mit seinen übergroßen Gefühlen und kapriziösen Launen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Liebe und Hass in der Vorstadt
Peter Kurth und Peter Schneider ermitteln im „Polizeiruf“ nach einem Kindsmord in Halle/Saale Liebe und Hass in der Vorstadt
Zum Thema
Aus dem Ressort