Ein Besessener, der die Straße im Sucher hat

Die Retrospektive von Joel Meyerowitz im NRW-Forum ist die erste in Deutschland. 260 Fotos sind zu sehen.

Ein Besessener, der die Straße im Sucher hat
Foto: Joel Meyerowitz

Düsseldorf. Joel Meyerowitz, Jahrgang 1938, ist eine Ikone der zeitgenössischen Fotografie. Er gehört in eine Liga mit William Eggleston und Stephen Shore, wenn es um die Straßenfotografie geht. Aus dem fahrenden Auto heraus nimmt er in den 1960er Jahren die Lady auf, die sich auf einem Moped mitten auf der Fahrbahn die Fingernägel lackiert. Zehntausende von Fotos entstehen auf diese Weise. Jeden Tag ist er unterwegs, auf der Suche nach besonderen Momenten. Nun wird dieser Schatz in 260 Aufnahmen erstmals für Deutschland im NRW-Forum gehoben.

Ein Besessener, der die Straße im Sucher hat
Foto: Joel Meyerowitz

Die hochkarätige Retrospektive ist Ralph Goertz zu verdanken, der selbst seit 15 Jahren durch die Welt reist und Filme mit berühmten Koryphäen macht. Vor drei Jahren lernte er Meyerowitz im amerikanischen Provincetown kennen und schuf in monatelanger Arbeit den ersten Film über diesen Mann. Auch er hat seine Uraufführung in Düsseldorf.

Meyerowitz fängt als Art Direktor in einer Werbeagentur in seiner Heimatstadt New York City an. Für ein Foto-Shooting ordert er den Fotografen Robert Frank und fängt Feuer. Seit 1962 durchstreift er die Straßen auf der Suche nach Stimmung. Anfangs begleitet ihn sein Freund Garry Winogrand.

Meyerowitz entdeckt die absurdesten Szenen. In Mexiko etwa liegt neben lauter Waffen ein Baby in einer Holzkiste. Am Straßenrand stehen ein dunkelhäutiger Mann mit Hund und ein gewichtiger Herr, die Hand auf dem Herz. Offensichtlich läuft vor ihnen eine Parade ab, die der eine belustigend, der andere ganz ernst nimmt. Lauter sprechende Bilder sind es. Ein kranker Mann fällt rücklings auf die Straße. Ein Handwerker mit dem Hammer in der Hand steigt über ihn hinweg, so dass der Betrachter nicht weiß, ob er ihm helfen oder ihn erschlagen will.

Goertz, der in dem verwaisten NRW-Forum vom Katalog bis zur Ausstellung alles selbst organisiert, zeigt sogar die berühmte MoMa-Schau von 1968, die erste Einzelausstellung des Künstlers. Sie beweist, wie genau er selbst im Bruchteil einer Sekunde den richtigen Ausschnitt trifft, so dass die Komposition selbstverständlich wirkt.

1966 kommt er erstmals nach Europa und ist erstaunt über das langsame Tempo. In Paris flaniert die Dame im eleganten gelben Mantel vor einem Café. Passanten stehen neben einem U-Bahn-Eingang und amüsieren sich über einen dahinfliegenden Hut. Und Meyerowitz „schießt“ ein Bild nach dem anderen.

Wieder zurück in Amerika, kauft er sich 1976 zusätzlich zu seiner Kleinbildkamera die erste Plattenkamera mit Stativ. Er entdeckt das Licht auf der Halbinsel Cape Cod. Sein Buch „Cape Light“, „Licht am Cape“ (1979), wird zur fotografischen Offenbarung. Zugleich macht er an der Küste einen öffentlichen Aufruf, er brauche Modelle am Strand. Sarah ist eine von vielen, die sich melden, und ihr Porträt ist das schönste Bild eines rothaarigen Mädchens mit lauter roten Pigmentflecken. Mit einem raffinierten Spiel der überkreuzten Arme und der wallenden Haare blickt das junge Girl in die Kamera.

Von Neugierde getrieben, schmuggelt sich Meyerowitz in die Ruinen des World Trade Center nach dem 11. September 2001. Schließlich erhält er als einziger Fotograf die Erlaubnis, 400 großformatige Bilder von Ground Zero zu machen, die heute im Memorial Museum zu finden sind. Seine jüngsten Stillleben sind ein Abgesang auf das Werk eines großen, alten Mannes.

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