Life of Pi-Verfilmung: Der junge Mann und das Meer

Ang Lee verfilmt Yann Martels Weltbestseller „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“ als Achterbahnfahrt der Sinne.

Düsseldorf. „Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand“, lautet eine alte Juristenweisheit. Das, was sich in Yann Martels Bestseller „Schiffbruch mit Tiger“, der am zweiten Weihnachtstag in den Kinos anläuft, in einem Rettungsboot abspielt, ist quasi die Illustration für die zweite Hälfte dieses abgenutzten Sinnspruches. Ein Frachtschiff kentert im Pazifik — die einzigen Überlebenden sind der 16-jährige Inder Pi Patel (Suraj Sharma), ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne und ein Tiger.

Schnell ist diese Versuchsanordnung in Sachen Darwinismus dezimiert: Übrig bleiben der Tiger als stärkstes und Pi als intelligentestes Lebewesen. Aus Planen, Planken und Notreserven baut er sich ein Floß, das nur ein Seil mit dem Boot verbindet. Tage und Nächte wechseln sich ab, die Hoffnung auf Hilfe schwindet. Immer wieder versucht Pi, zu dem Tiger ins Boot zu kommen. Doch das Wildtier lässt sich nicht zähmen, auch wenn Pi das inständig hofft, weil ihn die gefühlte Beziehung aufrechterhält. Der Junge beginnt, seine Erlebnisse in einer Art Logbuch zu dokumentieren. Langsam wird ihm dabei bewusst, was es eigentlich bedeutet, am Leben zu sein.

Mindestens so abgenutzt wie die Redewendung mit der hohen See ist die hohle These, nach der ambitionierte Romane gerne als „unverfilmbar“ gelten. Bei „Schiffbruch mit Tiger“ stimmt diese Einschätzung allerdings. Das Kammerspiel zwischen verängstigtem Menschen und wildem Tier, das vor allem von inneren Monologen getragen wird, scheint tatsächlich nicht auf die Leinwand übertragbar. Zu kompliziert der Dreh, zu groß die Gefahr, das Publikum zu langweilen.

Wenn es einen Regisseur gibt, den Neuland reizt, ist es Ang Lee. Der Taiwanese hat bisher so gut wie jedes Genre bedient und dabei künstlerisch immer überzeugt. Fehlt also nur noch: Das Unmögliche auf der Leinwand möglich machen.

Und auch das gelingt ihm. Sich „Life of Pi“ anzusehen, ist ein bisschen, wie Cary Grant zuzuschauen. Über den hat Billy Wilder mal gesagt, er sei deswegen der wahrscheinlich beste Schauspieler seiner Zeit, weil man ihm nie anmerken würde, dass er spielt. „Life of Pi“ merkt man nie an, mit wie viel Tricks und 3D-Effekten hier gearbeitet worden sein muss. Alles wirkt authentisch, auch der Tiger aus dem Computer. Der Überlebenskampf wird dadurch höchst dramatisch und führt den Zuschauer bisweilen an die Grenzen der Belastbarkeit.

Der Film ist ein im wahrsten Wortsinn „sinnliches“ Erlebnis: Man spürt die Enge, die Pi trotz der unendlichen Weite des Ozeans empfindet. Man begreift die Angst, die der Tiger vor allem dann verbreitet, wenn er nicht zu sehen ist, weil er unter einer Plane kauert. Und man genießt die stillen Momente, in denen Pi das Farbenspiel des Mondes auf dem Meeresspiegel beobachtet oder die Sonne seinen ausgemergelten Leib wärmt.

Dass der Film zu Beginn mit seiner Aneinanderreihung von skurrilen Anekdoten aus der Kindheit Pis etwas zu bemüht literarischen Charme versprühen will, dass er den philosophischen Unterbau am Ende bis ins Detail aufdröselt und damit einen Teil seines Zaubers preisgibt — es spielt keine Rolle. „Life of Pi“ ist außergewöhnliches Kino. Die Odyssee des Stillstands mit Pi macht deutlich, warum Menschen glauben wollen. Wer solche Momente für die Leinwand erschaffen kann, gilt zu Recht als Meisterregisseur.

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