Hanns-Josef Ortheil: Der große Schweiger wird Zuhörer

Hanns-Josef Ortheils Roman „Das Kind, das nicht fragte“.

Düsseldorf. Der Ich-Erzähler stellt sich als sprachloser Trottel vor. Er versteht seine Umwelt nicht. Er wundert sich darüber, dass die Stewardessen ihn aus dem Flugzeug treiben wollen, anstatt ihn noch schöne Fotos von der sizilianischen Landschaft durchs Flugzeugfenster machen zu lassen.

Tatsächlich hat der Mann ein Problem: Er spricht kaum. Und wenn er schon eine Frage stellt und diese nicht wie erwartet beantwortet wird, ist er irritiert und verstummt. Vielleicht ist er deshalb Ethnologe, der andere Völker aus der Distanz befragen kann: „Ich möchte keineswegs als Privatmensch, sondern ausschließlich als Forscher betrachtet und auch behandelt werden.“

So beginnt der neue Roman „Das Kind, das nicht fragte“ von Hanns-Josef Ortheil. Haben wir es hier mit einem Kommunikations-Autisten zu tun, der versucht, seinen Mangel durch das Erforschen fremder Menschen auszugleichen? Zugleich steht hinter dem Verstehenwollen des Anderen der Versuch, sich selbst zu verstehen.

Stillsein ist seine Sache. Das hat er als schweigender Nachkömmling zwischen seinen gesprächigen älteren vier Brüdern und den Eltern am Familientisch gelernt. Benjamin heißt er, hat sich nie aus dem Elternhaus gelöst und wird nun als mittelloser Privatdozent von seinen gut verdienenden Brüdern alimentiert.

Das kann eigentlich nicht gut gehen. Aber dann wäre es kein Ortheil. In seiner lichten Sprache breitet er die Geschichte aus, deren Kulisse Italien Sehnsuchts- und Erlösungsort ist. Nach „Die Erfindung des Lebens” und „Die Moselreise” geht es dem Autor hier erneut um die autobiografisch geprägte Selbsterkundung, um Sprechen, Fragen, Schweigen.

Wie Benjamin im Roman ist Ortheil der fünfte Sohn seiner Eltern. Gründet Benjamins Spracharmut darin, dass ihn seine Brüder ins Schweigen zwingen, so sind Ortheils Brüder bereits vor seiner Geburt gestorben. Die so vom Schicksal geschlagene Mutter verstummte — und mit ihr der kleine Hanns-Josef, der erst mit sieben Jahren sprechen lernte.

Auch Benjamin findet zur Sprache zurück. Denn er hört zu und wird zum begehrten Gesprächspartner, dem sich die Menschen mit ihren Sehnsüchten öffnen. Das mögen gerade die Frauen. Hier fasziniert besonders das poetische Kennenlernspiel zwischen Benjamin und Paula.

„Ein entspannter Spaziergang, leicht, munter, vital”: So könnte Ortheil auch seinen Roman beschreiben, der mit der wohl schwersten und zugleich leichtesten Gesprächsform endet — einem hoffnungsvollen Gebet.

Hanns-Josef Ortheil: „Das Kind, das nicht fragte”, Luchterhand, 320 Seiten, 21,99 Euro.

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