Interview mit Jonathan Franzen: „Eine Sache von Leben und Tod“

Deutsche Literatur hat mein Leben verändert! Das sagt der US-Bestsellerautor Jonathan Franzen über Döblin, Kafka und Rilke.

New York. Seit den Bestsellern „Die Korrekturen“ und „Freiheit“ gilt Jonathan Franzen als einer der bedeutendsten Schriftsteller der USA. Viele Jahre schreibt Franzen jeweils an seinen zentimeterdicken Generationen-Werken. Vor seinem mit Spannung erwarteten nächsten Buch hat er gerade einen Essay-Band veröffentlicht und einen Band über den Satiriker Karl Kraus angekündigt. Mit unserer Zeitung sprach der studierte Germanist in seiner Wohnung in Manhattan, wo ein Fernglas am Fenster von seiner Leidenschaft für die Vogel-Beobachtung zeugt, über Angela Merkel und seine Begeisterung für deutsche Literatur.

Herr Franzen, an Ihrem letzten Roman „Freiheit“ haben Sie neun Jahre gearbeitet. Wie schaffen Sie es, sich so lange zu disziplinieren?

Jonathan Franzen: Ich würde das nicht Disziplin nennen. Ein disziplinierter Mensch bin ich überhaupt nicht, das kann Ihnen jeder bestätigen, der schon einmal mit mir zusammengelebt hat. Es ist Besessenheit. Wenn ich das Gefühl habe, dass es da ein Buch gibt, dann bin ich davon besessen, es zu finden. Dann ist das kein Kampf, darüber nachzudenken, sondern es ist einfach immer da — in der U-Bahn, in der Dusche, oder wenn ich mitten in der Nacht aufwache. Das eigentliche Schreiben dauert nur etwa ein Jahr. Seiten zu füllen macht Spaß und ist der leichteste Teil. Der Mensch zu werden, der dieses Buch schreiben kann — das ist der schwere Teil. Und mit „Freiheit“ habe ich mich sehr gequält.

Nach so viel Lob — spüren Sie jetzt mehr Druck?

Franzen: Bei „Freiheit“ habe ich Druck gespürt, weil ich wusste, dass ich in den „Korrekturen“ gezeigt hatte, was ich konnte. Ich wollte beweisen, dass das kein Zufall war. Jetzt brauche ich nichts mehr zu beweisen.

Sehen Sie Ihren Job auch als „moralisches Gewissen“ der USA?

Franzen: So weit würde ich nie gehen. Aber es ist mein Job, mich einzumischen, und da scheine ich gut drin zu sein. Außerdem ist es einfacher, über Kultur oder Politik zu reden, als über meine Romane. Letztens hat mich ein Mann auf einer Party, der noch nie von mir gehört hatte, gefragt, wovon „Freiheit“ handelt. Ich konnte es nicht in einem Satz zusammenfassen, dabei habe ich wahrscheinlich Hunderte Interviews zu diesem Buch gegeben. Sehr peinlich.

Wie fühlt es sich an, auf der Straße erkannt zu werden?

Franzen: Ich werde ungefähr jedes zweite Mal erkannt, wenn ich länger draußen bin. Normalerweise sagen die Leute dann, dass sie meine Bücher mögen, und das ein- oder zweimal die Woche zu hören kann man doch nur mögen. Aber man wird sich bewusster, wie merkwürdig sich ein Mensch verhält. Manchmal habe ich einen komischen Gesichtsausdruck oder murmele einen Satz vor mich hin, den ich nicht vergessen will. Aber da habe ich ein dickes Fell entwickelt, es ist mir egal, was die Leute von mir denken.

Woher stammt Ihr Interesse an Deutschland?

Franzen: Zufall. Ich musste eine Fremdsprache auswählen, und ich fand Deutsch nie schwer. Da habe ich immer leicht eine Eins bekommen. In meinem letzten Studienjahr habe ich dann den Literaturprofessor kennengelernt, der mein Leben verändert hat. Ich bin durch einen persönlichen Verwandlungsprozess gegangen, und diese Jungs — Kafka, Rilke, Mann, Döblin — haben genau zu mir gesprochen. Literatur war auf einmal nicht mehr etwas, das man studiert, sondern eine Sache von Leben und Tod.

Glauben Sie, dass Ihr Erfolg in Deutschland damit zu tun hat?

Franzen: Es gibt eine sehr starke literarische Tradition in Deutschland, und ich komme sehr gerne dorthin, weil es mich an die Ernsthaftigkeit meiner Jugend erinnert. Weil die erste Literatur, die ich ernsthaft gelesen habe, die deutsche war, habe ich eine Art deutsche Struktur in mir als Schriftsteller. Meine Lesungen dort mache ich inzwischen auch auf Deutsch. Interviews gehen notfalls auch — aber ich würde lieber einen hohen Berg besteigen, als ein halbstündiges Interview auf Deutsch zu geben. Das habe ich mal gemacht und musste danach fast ins Krankenhaus.

Welche zeitgenössischen deutschen Autoren mögen Sie?

Franzen: Das ist schwierig, weil ich sie im Original lesen will, aber auf Deutsch so langsam lese. Von Daniel Kehlmann habe ich aber fast alles gelesen, weil wir Freunde geworden sind, und ich mag ihn sehr. Ich habe einen Berg voller ungelesener deutscher Bücher, und ständig kommen neue hinzu.

Sind Sie ein Angela-Merkel-Fan?

Franzen: Es ist schwer, sich lange genug für Merkel zu interessieren, um eine Meinung über sie zu entwickeln. Sie scheint geschickt genug zu sein, um ihren Job zu behalten. Auf mich wirkt sie wie ein deutscher Bürokrat, aber nicht besonders charismatisch.

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