„Schamlos“ in Bonn Beim ersten Mal tut’s noch weh

Die Skandale von früher sind heute kalter Kaffee. Den Wandel der Sexualmoral zeigt die pfiffige Schau „Schamlos“ in Bonn.

„Schamlos“ in Bonn: Beim ersten Mal tut’s noch weh
Foto: Haus der Geschichte/Axel Thünker

Bonn. Das Schreiben an die Bundestagsabgeordnete Lenelotte von Bothmer (1915-1997) endet mit der von Wutbürgern stets gern verwendeten Totschlagformel „Armes Deutschland!“. Die SPD-Politikerin und Schriftstellerin hatte es im Oktober 1970 gewagt, in einem Hosenanzug eine Rede im Plenum zu halten. Richard Jaeger (1913-1998), der Vizepräsident des Hohen Hauses und Besitzer eines CSU-Parteibuches, hatte zuvor erklärt, er gestatte es keiner Frau, in Hosen das Parlament zu betreten, geschweige denn das Wort zu erheben. Von Bothmer besorgte sich in renitenter Absicht einen Hosenanzug und hielt ihre Rede.

Oben erwähnter Briefeschreiber bemühte sich gar nicht erst um einen Absender, auch die korrekte Schreibweise von Bothmers ist dem höchstwahrscheinlich männlichem Autoren reichlich wurscht („Pfui, Bodmer!“). Er beschließt seine anonyme Beschimpfung mit einem sorgenvollen Aufruf Richtung Vaterland und vier Ausrufezeichen: „So tief bist Du gesunken mit den roten Parteiweibern!!!!“ Ein anderer Schreiber fühlt sich berufen, den Hosenskandal politisch zu deuten: „Man sieht doch, wohin die Listenwahl führen kann.“ Sein Brief endet ohne Gruß.

Man mag sich gar nicht vorstellen, wie die Empörten heute auf Bundeskanzlerin Merkel reagieren würden, die ja nicht nur eine Frau ist — wenn auch kein rotes Parteiweib —, sondern morgens auch fast immer zur Hose greift. Die Lehre nach fast 45 Jahren: Beim ersten Mal tut’s noch weh.

„Schamlos. Sexualmoral im Wandel“ heißt die Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte, die die heute kaum noch vorstellbaren Moralvorstellungen früherer Zeiten aus der Mottenkiste holt und sie in einer pfiffig gestalteten Zeitreise präsentiert. Unter den 900 Exponaten der Schau findet sich auch eine Auswahl zänkischer Zeilen an von Bothmer, die furchtlose.

Die Ausstellung schlägt einen Bogen von den Kampagnen gegen „Schmutz und Schund“ der 50er Jahre, in denen die Zensur nicht einmal vor Tarzan-Comics haltmachte und eine Nacktszene mit Schauspielerin Hildegard Knef die Nation vor Empörung (und Neugier) erbeben ließ, bis zu aktuellen Diskussionen um die Ehe für alle, mit der die Kanzlerin sich per Verlautbarung ja immer noch „schwer tut“.

Zu sehen sind Kondomverpackungen von Annopiep („Mondos spezial, für höchste Ansprüche, feucht“), skurrile Wahlplakate („Die Frau als Hüterin der christlichen Familie wählt CDU“) und Titelseiten von Magazinen, etwa des Spiegels, der Aids mal für eine „rätselhafte Krankheit“, mal für eine „Schwulenseuche“ hielt. Die Bild begleitete das Coming-out des Ex-Fußballers Thomas Hitzelspergers („Ja, ich liebe Männer“) im vorigen Jahr mit ihren berüchtigten roten Großbuchstaben, die bei manch anderen eher eine Aufzugfahrt nach unten bedeutet hätte — RESPEKT!

„Schamlos“ räumt auch mit dem Mythos der sexuellen Befreiung auf, die angeblich der aufmüpfigen 68er-Generation geschuldet ist. „Das einschneidendste Ereignis von allen war die Einführung der Pille“, stellt Ausstellungsdirektor Jürgen Reiche klar. „Das war die eigentliche sexuelle Revolution.“ In der Bundesrepublik war die Pille 1961 zu haben, in der DDR erst vier Jahre später.

Auch die Meinung der Besucher ist in Bonn gefragt. Etwa bei der Frage, ob Prostitution verboten werden soll. Das Knöpfchen für ein Verbot wurde 18 000 mal gedrückt, an die 28 000 Klicks sind dafür, käufliche Liebe nicht anzutasten.

Schamlos, früher undenkbar!

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