Bildhauer ohne Feigenblatt

Ein unbekannter Großer: Das Duisburger Lehmbruck-Museum zeigt 100 Werke von Max Klinger.

Duisburg. Der Einfluss von Max Klinger (1857 — 1920) auf die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts ist enorm. Käthe Kollwitz schielte bei ihren Rückenakten auf seine sensiblen Skulpturen, Wilhelm Lehmbruck wetteiferte mit seinem Thema von Tod und Leben. Ferdinand Hodler suchte wie er nach Melancholie und Empfindsamkeit. Geistesgrößen wie Nietzsche, Beethoven, Hauptmann wurden von ihm portraitiert.

Doch wer in Westdeutschland kennt Klinger, den Kerl mit Fauns-Bart, den Liebhaber emanzipierter Frauen, den Querulanten gegen das imperiale deutsche Gehabe nach der Reichsgründung? Das Kunsthaus Apolda, Museum dieses thüringischen Städtchens mit rund 23 000 Einwohnern, schickt eine Schau mit nie gezeigten Werken ins Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museum und stellt ihn für die Ausstellung „Von der herben Zartheit schöner Formen“ in einen Dialog zu dessen Namensgeber Lehmbruck (1881 — 1919).

Klinger ist seit seinem Tod so sehr vergessen, dass der Südtiroler Immobilienhändler Siegfried Unterberger nach der Wende über seine Leipziger Niederlassung 100 Arbeiten des Künstler — Silber- und Bronzegüsse, Stein- und Papierarbeiten sowie Gemälde — erwerben konnte. Mit seiner Privatsammlung sowie den Schätzen ostdeutscher Museen von Altenburg bis Zwickau kam eine Ausstellung zustande, die bereits in den ersten vier Tagen 10 000 Besucher anlockte.

Das Bestechende an diesem Maler und Bildhauer, der in Weimar, Berlin, Paris, Rom und schließlich in Plagwitz bei Leipzig lebte, sind seine gesellschaftskritischen Sinnbilder zwischen Tod und Leben, Liebe und Abgrund. Was er über Sex und Moral, Macht und Ohnmacht, Prostitution und Abgrund in tabulosen Erotik-Szenen fasste, erstaunt noch heute. Er untersuchte in Italien und Griechenland die antike Nacktheit, bevor er sich Großstadt-Themen widmete.

Als er den unbekleideten Christus zwischen gefallene Mädchen platzierte, hagelte es Kritik im ach so anständigen Deutschen Reich. Der Mann, dessen Geliebte seine Modelle waren, kannte sich in erotischen Tändeleien aus. Elsa, seine Geliebte und Mutter seiner Tochter, präsentiert er als „Kauernde“ (1898) mit manieristischen Drehungen und sensibel gestaltetem Rücken, der für viele Nachfolger zum Vorbild wurde. Andererseits konnte er ironisch sein. Sein „Intermezzo“ (1880) zeigt eine Elfe auf einem dünnen Ast, etwas tiefer im Bum hat sich ein Bär in eine Astgabel geklemmt. Die Frau neckt das Tier mit einem Zweig, das sich nicht zu wehren wagt, weil es dann abrutschen würde.

Er war ein virtuoser Radierer. Ein bekanntes Blatt zeigt einen nackten „Philosophen“ (1910), der seinem eigenen Spiegelbild nicht trauen mag. Die Fragen nach der Realität und Identität ziehen sich durch das gesamte Werk.

Seine Meeresnymphe Galatea (1906) sitzt als selbstbewusste, durchtrainierte Dame in Tanz-Pose auf dem Thron — eine Göttin von heute.

Max Klinger stellt dem romantischen „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich demonstrativ seine „Frau am Meer“ zur Seite — nicht sakral, sondern in profaner Verlassenheit. Der einzig kongeniale Künstler, Wilhelm Lehmbruck, schuf um 1904 einen „Steinwälzer“, einen modernen Sisyphus, in dem auch er Schönheit und Schmerz vereinte.

Klinger, so aktuell in seinen Themen und seinem Denken, ist eine echte Wiederentdeckung.

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