Londoner National Gallery: So viel Leonardo war nie

Die Londoner National Gallery zeigt die Ausstellung des Jahres: Sie bringt 60 große Da-Vinci-Gemälde an einem Ort zusammen.

London. Für Kunstliebhaber ist es ein Coup, für die National Gallery der mit Sicherheit stärkste Besuchermagnet ihrer bisherigen Geschichte: Ab dem 9. November stellt das Museum am Trafalgar Square den wohl umfassendsten Reigen an Leonardo-da-Vinci-Bildern aus, der je an einem Ort zu sehen war.

Das verschollen geglaubte Gemälde „Salvator Mundi“ wird hier erstmals öffentlich präsentiert. Premiere auch für die zwei Versionen der „Madonna in der Felsengrotte“: Nie zuvor sind die Louvre-Madonna und die zweite Variante, gerade aufwändig über 18 Monate in der National Gallery restauriert, Seite an Seite gezeigt worden.

Leonardo da Vincis größtes Erbe hat zuletzt nicht die größte Aufmerksamkeit bekommen. Denn der Tausendsassa strotzte vor Talenten, von denen uns 500 Jahre nach seinem Wirken und im Zeitalter der Smartphones vor allem sein moderner technischer Intellekt imponiert. Nach der Entdeckung von Leonardo als Architekt, Designer, Waffen-Ingenieur, Erfinder und Anatom lenkt die National Gallery den Fokus nun zurück auf seine Kunst.

„Er hat eine stilistische Reise unternommen, die sein Genre revolutionieren sollte“, fasst Kurator Luke Syson Leonardos Malerkarriere zusammen. Schon bisher konnte man in der National Gallery sehen, wie weit Leonardo seinen Zeitgenossen voraus war: Wo andere Ölgemälde seiner Ära eindimensional und leblos wirken, modellierte er Laub, Roben und Haar mit Hilfe von Licht und Schatten wie Skulpturen. Ein Überblick über seine Hauptschaffenszeit gelingt allerdings erst jetzt — mit Hilfe von Leihgaben aus ganz Europa. „Die meisten Werke, die wir ab November ausstellen, sind noch nie zuvor ausgeborgt worden“, so Syson.

Für die dreimonatige Ausstellung hat sein Team über fünf Jahre Vorbereitungszeit gebraucht. Mit viel Diplomatie haben sie es geschafft, dass fast alle weltweit erhaltenen Gemälde aus Leonardos Mailänder Zeit in London zu sehen sein werden, darunter der „Heilige Hieronymus“ aus dem Vatikan, „Die Dame mit dem Hermelin“, die „Belle Ferronnière“, das „Bildnis eines Musikers“.

Vor allem die Restaurierung der Felsenmadonna von 1483 habe neue Erkenntnisse zu Leonardos Arbeitsweise gebracht. Als Einziger hatte Leonardo schon zu dem Zeitpunkt begriffen, wie das menschliche Auge Farben im Dämmerlicht verarbeitet — und das entsprechend umgesetzt. Wann er von Helfern Schablonen abmalen ließ, wo er selbst den Pinsel schwang und in welchem Gemälde man per Infrarot-Scanner einen „versteckten Leonardo“ gefunden hat — all das will die National Gallery an den mehr als 60 Exponaten verdeutlichen.

Was Leonardo als Maler erreichen wollte, wird in der Sonderausstellung deutlich: „Natürlich drängte es ihn, das Äußere perfekt abzubilden“, fasst Syson zusammen, „aber gleichzeitig galt sein Ehrgeiz dem Ziel, die Essenz des Menschen, seine Seele, sein Inneres sichtbar zu machen“. Leonardo da Vincis Werke seien eine „nie wiederholte Allianz aus Handwerk und ganz und gar außergewöhnlichen Gedanken“ eingegangen. Er habe sich angesichts der komplexen Werke oft als „unzulänglich“ empfunden.

Von diesem Hauch Demut vor dem Über-Talent Leonardo wird Syson sich rasch erholen müssen. Denn die Ausstellung verspricht schon vor ihrem Auftakt der größte Blockbuster des Jahres in der Kunstszene zu werden. Für die vielen Leonardo-Fans, die Syson erwartet, wünscht er sich, dass sie sich von dem Malerphilosophen zu einer anderen Art des Betrachtens inspirieren lassen. „Das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, das haben wir unter dem täglichen Bombardement von Tausenden Bildern verlernt.“ Damit die Besucher die Bilder in Ruhe betrachten können, hat die National Gallery den Einlass gedrosselt: Mit nur 180 statt 230 Gästen pro halber Stunde soll der Frust über Guck-Staus in Ausstellungen gemildert werden.

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