Am liebsten Rumpelstilzchen

Der Märchenforscher Heinz Rölleke verrät, welche Geschichten er als Kind gehört hat und wie er als junger Mann eine alte Märchenerzählerin gegen sich aufbrachte. Für unsere Zeitung dachte er sich ein Märchenquiz aus. HIER geht es zum MÄRCHENQUIZ

Es war einmal ein junger Mann, der liebte Bücher. Eifrig studierte er Seite um Seite, um seine Weisheit zu mehren. Eines Tages fand er heraus, dass Schneewittchen und Frau Holle gar nicht der Phantasie des deutschen Volkes entsprungen waren, sondern französische Vorbilder hatten. Ein größeres Geschrei hatte es in der Welt nicht mehr gegeben, seit der Spiegel der bösen Schwiegermutter die falsche Antwort gegeben hatte. Fortan trug der junge Mann den Titel "Märchenpapst" und ward landauf, landab gern gesehen.

Der Student von damals ist heute 71 Jahre alt, heißt Heinz Rölleke, und wenn er nicht gerade an einem Märchenkongress teilnimmt, dann liest er noch heute. Sein Neusser Haus, in dem der Germanistikprofessor seit seiner Emeritierung 2001 lebt, gleicht einem Knusperhäuschen für Bücherwürmer. Schon im Flur stapeln sich dicke Wälzer. Daneben hängt ein Bild aus einer Minnesanghandschrift aus dem 13. Jahrhundert. Denn abgesehen von dem "ganzen Märchengedöns" gilt Röllekes Leidenschaft dem Mittelalter und der Antike. Er geht oft auf Kulturreise nach Rom oder Griechenland.

Im Wohnzimmer haben die Bücher die Wände bis unter die Decke eingenommen. Es riecht wie in einem Antiquariat, viele Werke sind angegilbt. Beim Lesen hat Rölleke seine Gedanken an den Rand geschrieben. "Denn nur dann lebt eine Bibliothek", sagt er. 12000 Schätze hat er über die Jahre angesammelt, darunter auch die kostbare dritte Auflage der Grimmschen Hausmärchen von 1843. Die 60 Studien, die Rölleke selbst verfasst hat, zeigt er gerne.

Auf dem einzig buchfreien Fleckchen an der Wand hängen Porträts von Wilhelm und Jacob Grimm. Das von Jacob ist kleiner, denn diesen "Giftzahn im persönlichen Umgang" mag Rölleke nicht ganz so gerne wie dessen bescheideneren, jüngeren Bruder.

In einer Hinsicht identifiziert sich der Germanist jedoch mit beiden Grimms: "Die haben nur für die Wissenschaft gelebt, hatten kaum ein Privatleben. Sie sind wie ich völlig in ihrer Arbeit aufgegangen, um des wissenschaftlichen Fortschritts willen."

Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutet für Rölleke herauszufinden, "wie es wirklich war". Deshalb ist seine Entdeckung von 1975, dass die Grimmschen Märchen nicht dem deutschen Volk, sondern dem französischen Hof entstammen, für ihn ein "Wunder". Rölleke krempelte damit die Germanistik um, die Märchen bis dahin als Kinderkram und Metier für Volkskundler abgetan hatte. Die "Bild"-Zeitung titelte: "Rotkäppchen trug einen Rosé in ihrem Korb" und Rölleke, der sich bis dahin nicht übermäßig für die Grimms interessierte, wurde über Nacht zum Märchenpapst. Wenn er heute davon erzählt, klingt es, als hätte er gerade eigenhändig das Rotkäppchen aus dem Bauch des Wolfes befreit.

Wenn Rölleke Geschichten vorträgt, verwandelt er sich vom ernsten, faktenorientierten Wissenschaftler in einen verschmitzten Kobold. Seine tiefe Stimme grummelt dabei gemütlich. Er erzählt, wie er einmal einen Vortrag über die Grausamkeit im Märchen hielt und eine Zuhörerin zu ihm kam. "Sie baute sich vor mir auf und sagte: ’Sie haben mir mein ganzes Märchenbild kaputt gemacht. Vielen Dank auch’." In der Imitation klingt Rölleke so beleidigt wie ein ungeküsster Froschkönig.

Er selbst ärgert sich manchmal, dass die Menschen in ihm stets den Märchenexperten sehen. "Als wenn es das Einzige wäre, was ich gemacht habe. Das entspricht der Wahrheit aber ganz und gar nicht." Tatsächlich habe er sich viel intensiver mit der Romantik beschäftigt, aber die sei eben nicht so populär. Auch hätte er beinahe Mathematik studiert ("Da hatte ich immer eine Eins"), weil der Germanistikstudiengang so überfüllt war.

Als Kind kannte Rölleke keine Märchen. Statt dessen ist er mit den Gespenstergeschichten aufgewachsen, die der Küster im Dorf erzählte. Seinen beiden Enkeln (15 und 13 Jahre) jedoch erzählt der Großvater die alten Märchen, wenn sie zu Besuch kommen. So kennen sie sich in der Welt von Rumpelstilzchen und Co. beinahe so gut aus wie ihr Großvater.

In seinen Vorlesungen forderte Rölleke seine Studenten schon mal auf, das Ende des Märchens, als sich Rumpelstilzchen vor Wut ein Bein ausreißt, doch mal nachzuspielen. Kein Wunder, dass seine Vorlesungen an der Bergischen Universität Wuppertal stets überfüllt waren. Seine Studenten haben ihm immer wieder gesagt, er habe ihre Leidenschaft für die Literaturwissenschaft erweckt wie der Prinz das Dornröschen.

Um Röllekes Neusser Häuschen fliegen Tauben herum. Der Wissenschaftler würde ihnen wahrscheinlich sagen, sie seien die Helfertiere, die die Heldin in Aschenputtel dem Happy End näher bringen.

Werdegang Geboren am 6. November 1936 in Düsseldorf, kaufmännische Lehre, arbeitete als Verlagskaufmann, Besuch des Abendgymnasiums; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln und Zürich; 1974-2001 Professor für deutsche Philologie an der Bergischen Universität Wuppertal

Preise 1985 Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur und Hessischer Staatspreis, 1999 Brüder-Grimm-Preis der Universität Marburg, 2004 Bundesverdienstkreuz für Verdienste um die Literatur, 2006 Reichelsheimer Märchenpreis

Märchenwoche Während der "Düsseldorfer Märchenwoche" vom 17. November bis 1. Dezember wird Heinz Rölleke am 28. November um 19 Uhr im Theatermuseum einen Vortrag über "Tod und Reifung im Grimmschen Märchen" halten. www.maerchenwoche.com

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