Deichkind im Interview: „Der Druck muss irgendwie raus“

Wenn Trampoline und Hüpfburgen auf der Bühne stehen, sind Deichkind zurück. Mit unserer Zeitung sprach die Band über illegale Downloads und den Tod ihres Produzenten.

Ihr Bandkollege und Produzent Sebastian „Sebi“ Hackert starb 2009 völlig unerwartet. Was war passiert?

Ferris Hilton: Meine letzte Information: Sekundentod. Er lag länger in der Wohnung, seine Frau hat ihn erst nach Stunden gefunden. Sebi war ein Lebemensch. Er hätte vielleicht einmal mehr zum Arzt gehen sollen. Ich selbst lasse mich regelmäßig checken, weil ich in der Vergangenheit heftig gelebt habe. Ich habe meinen Motor jahrelang bis in den roten Bereich gejagt.

Stand die Band nach Sebis Tod auf der Kippe?

Kryptik Joe: Nach so einem Schock liegt man erstmal brach, als Freund und auch als Band. Aber weiterzumachen war immer noch besser, als zu Hause rumzusitzen. Sebi hat natürlich in der Produktion sehr gefehlt, aber am meisten als Freund. Er war ja kein Songwriter, er war Motivator, Produzent und verantwortlich für unseren Live-Sound. Das Projekt Deichkind hat sich durch seinen Tod nicht so sehr verändert. Bei uns sind im Laufe der Zeit viele Leute gekommen und gegangen. Unser Humor und der lebensbejahende Geist sind eigentlich immer gleich geblieben.

In Ihrem Song „Bück Dich hoch“ beschäftigen Sie sich mit Karrieristen. Die gibt es auch in der Musikbranche. Warum sind sie Ihnen einen Song wert?

Tino Turner: Ohne Burn-out bist du heutzutage nichts. Die Leute halten dich ansonsten für faul — das hat uns inspiriert. Wir selbst sind entspannte, ausgeglichene Männer, aber in unserem Freundeskreis sieht es ganz anders aus. Dort werden die menschlichen Briketts reihenweise in den Ofen geschaufelt. Das reicht von Zimmerleuten bis hin zu Juristen.

Welche Rolle spielt bei Deichkind das Individuum?

Turner: Die Band ist mächtiger als jeder einzelne von uns. Manchmal haben wir das Gefühl, dass dieser Apparat als künstliche Intelligenz weiter auftreten wird, auch wenn wir selbst gar nicht mehr dabei sind. So wie das Internet hat sich auch die Band irgendwann verselbstständigt.

Jan Delay übte kürzlich scharfe Kritik am Abmahnwesen bei illegalen Downloads. Er behauptete, das Geld werde unter den Anwälten und den Plattenfirmen gesplittet, ohne dass die Künstler davon etwas sähen. Stimmt’s?

Turner: Ich mag Jan wirklich gerne, aber ich fand es ein bisschen schwach, dass er im Nachhinein zurückgerudert ist und sich für seine Äußerungen entschuldigt hat. Das Rückgrat muss man dann schon haben. Ich meine, wir sind ein erfolgreicher Act und rufen zum Downloaden auf. Die Gesichter unserer Plattenfirmen-Leute waren uns egal. Musik ist nicht der Glaskasten mit den heißen Büromäusen. Musik ist ein Gefühl und kein Produkt, das verkauft wird. Illegale Downloads bedeuten deswegen nicht das Ende des Musikbusiness, es entstehen ja dadurch auch wieder neue Sachen.

Wie entstehen Deichkind-Texte?

Turner: Es ist vor allem spannend, Schwachsinn an die Wand zu werfen und dann zu schauen, ob vielleicht ein Gemälde hängen bleibt, das dann für Hunderttausende verkauft wird. Das Prinzip lautet: Flipchart, Edding, Überthemen sammeln. Einer schreibt mit und der andere geht steil.

Was beflügelt Ihre Kreativität?

Kryptik Joe: Einmal haben wir uns in einer einsamen Hütte in Mecklenburg-Vorpommern eingemietet, ohne Internet und Musikinstrumente. Die Atmosphäre war düster wie beim Film „Blair Witch Project“. Wir wollten ein bisschen strukturierter ans Texten rangehen. Das war wahnsinnig effektiv. Ferris hatte noch drei Kisten DVDs mitgebracht. Im Fernsehen gab es nur drei Programme — ganz wie früher.

Der Vergangenheit gehören auch Helmut und Hannelore Kohl an, die Sie in dem zornigen „99 Bierkanister“ besingen. Ein Polit-Song im Party-Gewand?

Kryptik Joe: Helmut Kohl ist die Hassfigur meines Vaters und meines Schwiegervaters. Aber er ist der Kanzler der Einheit. Uns geht es nicht darum, unsere persönliche Meinung zu äußern. Wir wollen der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Der Song ist eine Collage von Deutschland, bestehend aus deutschen Wörtern, die die Amis benutzen. Deshalb kommen darin auch nur Deutsche vor, die in den USA bekannt sind. Mit dem Song wollen wir dort erstmals in die Charts gehen. Er trägt den Untertitel „Dies ist nicht Amerika“. Der ursprüngliche Slogan war „Haste mal ’ne Mark für mich, dann singe ich ein Lied für dich“.

Welches sind Ihre moralischen Überzeugungen?

Kryptik Joe: Hedon ist unser Gott, sobald wir auf der Bühne stehen. Wir wollen in dem Moment Party feiern und uns keine Gedanken machen über all das Schlechte in der Welt. Der Druck muss irgendwie raus.

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