Pop: Durchbruch mit Doktorspielen

Ingrid Michaelson lässt die Musikbranche zittern: Die 29-Jährige Folk-Diseuse hat mit geschickter Platzierung ihrer Songs seit zwei Jahren Erfolg, aber keinen Plattenvertrag.

Düsseldorf. Telefonieren kann sich, rein technisch gesehen, selbst im 21. Jahrhundert schwierig gestalten. Ingrid Michaelson ruft zum Interview nicht etwa via dafür üblichem Festnetzanschluss an, noch nicht mal per Handy, "das wäre schließlich ziemlich teuer", wie sie mit gespielter Entrüstung feststellt. Sie telefoniert per Skype, also digital übers Netz.

Und das hört man. Immer wieder verzögert sich ihre Stimme oder einzelne Silben wiederholen sich mehrfach, als würde ein DJ an den Plattentellern scratchen. Andere Satzfetzen werden im Gegenzug völlig verschluckt. Es ist schwierig, sie zu verstehen.

Auch die amerikanische Musikindustrie hat damit ihre Probleme. Verständlich finden sie das Verhalten der 29-Jährigen nicht. Seit zwei Jahren gilt sie in den Staaten als namhafte Musikerin, ihre Songs unterlegten die Schlüsselszenen von US-Serien-Erfolgen wie "One Tree Hill" oder "Grey’s Anatomy". Letztere ist auch in Deutschland bekannt dafür, ruhigem Neo-Folk und verschrobenen Alternative-Balladen eine Heimstatt zu bieten.

"How To Save A Life" von The Fray fand als Soundtrack für das Liebesleid der Jungärzte eine breite Öffentlichkeit, genauso wie "Chasing Cars" von Snow Patrol oder "Brighter Than Sunshine” von Aqualung. Ingrid Michaelson allerdings ist ein Sonderfall. Sie lief hier, in der bei amerikanischen Jungakademikern erfolgreichsten TV-Sendung, bereits mit fünf verschiedenen Songs.

Welche Bedeutung diese Cross-Vermarktung für die Musikindustrie mittlerweile hat, zeigen die vielen Agenturen, die sich darauf spezialisiert haben, die Musik ihrer Schützlinge in einer oder bestenfalls gleich mehreren erfolgreichen Fernsehserien zu platzieren.

Das schafft nicht nur Aufmerksamkeit. Die Songs als Untermalung des meist dramatischen, stimmungsvoll eingefangenen Geschehens entwickeln eine emotionale Bindung und animieren die Zuschauer dazu, nach den Interpreten zu forschen - im Idealfall, um sich die Platte zu kaufen.

Nachdem Michaelsons "Keep Breathing" während des Finales der dritten Staffel von "Grey’s Anatomy" zu hören war, wurde ihr Name am nächsten Tag bei Google America zum meistgesuchten Begriff. Ihre Songs stiegen in die A-Listen der Top-Radiosender auf und das Video zu "The Way I Am", dem Song, der nun in Europa ihre erste Single ist, lief auf den Musikstationen quasi in Dauerschleife.

Hat sie das als Ausverkauf ihrer Musik empfunden? "Das fragen viele, und tatsächlich war mir erst nicht ganz wohl dabei. Als ich meine Songs dann allerdings im Fernsehen gesehen habe, hatte ich Gänsehaut." Es ist einer der wenigen Sätze, die man fast vollständig versteht. Danach bricht die Leitung wieder zusammen. Sie ruft zurück, versichert sie. Zum mittlerweile fünften Mal.

Trotz ihres stetig steigenden Bekanntheitsgrades hat Michaelson immer noch keinen Plattenvertrag. Das ist es auch, was die Musikindustrie so nervös macht. Für Insider wie Produzenten-Guru Rick Rubin, die den Niedergang der Branche für den Fall, dass sie sich nicht aufs Netzgeschäft konzentriere, bereits vor sechs Jahren vorhersagten, ist Michaelson der Prototyp des unabhängigen und trotzdem erfolgreichen Quereinsteigers.

Einen Manager hat sie, einen Anwalt und ihren Spürsinn. Das muss reichen. "Es ist mein kleines Frankenstein-Label", sagt sie, ein künstliches Monster, das den Musikriesen die Stirn bietet. "Warum sollte ich daran etwas ändern, solange es funktioniert?"

Vielleicht gibt ihr der familiäre Background diese Sicherheit. Aufgewachsen ist Michaelson auf Staten Island, dem leicht anachronistischen Vorstadt-Idyll von New York City. Sie wohnt auch heute noch bei ihren Eltern, einem Komponisten und einer Bildhauerin, die hauptberuflich als Museumsdirektorin arbeitet. Das Haus ist weitläufig und trotzdem verwinkelt, in den Regalen stapelt sich Bildungsbürgerliteratur, vor dem Haus spielt ein Hund auf saftig grünem Rasen.

Finanziell blieben keine Wünsche offen, in ihren Werdegang redeten Vater und Mutter nicht rein. Musik wollte Michaelson erst studieren, machte stattdessen eine Bühnenausbildung und kämpfte zwei Jahre lang um Kleinstrollen in Broadway-Musicals, um mit 24 dann endlich darauf zu kommen, ihre eigenen Songs zu machen.

Es sind introvertierte, gleichzeitig aber aufwendig instrumentierte Lieder, die ihr erstes Album kennzeichnen. Klassische amerikanische Songschreiberschule, häufige Tempowechsel, auch mal ein Walzertakt, beredte Melancholie und halbtondurchsetzter Wohlklang, wie man es von einem Akademikerkind erwartet.

Ob die Brille diesen Eindruck unterstreichen soll, ist die Frage, bevor die Leitung ein sechstes Mal zu versickern droht. "Die trage ich, weil sie zu mir gehört. Ich hab’s mal mit Kontaktlinsen versucht, aber das war ich nicht." Nicht umsonst heißt es auf ihrer Single: "Take Me the Way I Am", nehmt mich, wie ich bin!

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