Viel Blut und nackte Haut: „Freischütz“ in Berlin

Berlin (dpa) - Zur Ouvertüre kommt zunächst einmal das Schwein. Während das Orchester noch die ersten Akkorde schmettert, schnüffelt sich das Borstentier durch das Laub.

Als Darsteller hat das Viech im neuen Berliner „Freischütz“ ein kurzes Leben. Die Jäger stürmen die Bühne und zerfleischen das Tier, das sich im Gewühl in einen Menschen verwandelt. Gierig weiden die Schützen und ihre Frauen die Leiche aus. Der Regisseur Calixto Bieito bringt den Opernklassiker schnell auf Betriebstemperatur und stellt klar: Der Mensch ist des Menschen Schwein.

Wer sich am Sonntagabend in der Komischen Oper einen Aufruhr versprach, wurde allerdings enttäuscht. Auch wenn die Inszenierung ab 16 Jahren empfohlen wurde, hielt sich die Erschütterung in Grenzen. Bieito bekam einigen Applaus, als Theater-Provokateur machten ihm die Buhrufe wohl eher Freude. Die Sänger, das Orchester (Leitung: Patrick Lange) und der Chor setzten die Glanzpunkte des Abends.

Carl Maria von Webers „Freischütz“ gilt als deutsche Romantikoper schlechthin. Seit der Uraufführung 1821 in Berlin zählt sie zum Kernrepertoire des Musiktheaters. Von Joachim Herz bis Loriot - die volkstümliche Geschichte des glücklosen Schützen Max und der magischen Kugeln gibt Regisseuren viel Spielraum.

Die Geschichte klingt simpel: Keine Hochzeit und keine Erbförsterei ohne Probeschuss - das fordert ein altes Gesetz. Weil Max kurz vor der Hochzeit aber nicht mehr trifft, lässt er sich auf einen Deal ein. Sein Freund Kaspar sichert ihm sechs treffsichere Kugeln zu, die Bahn der siebten bestimmt der Teufel. Die Abmachung wird Max zum Verhängnis.

Dunkel und unheimlich reihen sich die Bäume in dem Bühnenbild von Rebecca Ringst, je nach Lage schwanken die Stämme oder krachen zu Boden. Bieito bemüht für seine Erzählung den Wald als deutsche Mythenlandschaft. Im Gestrüpp verheddern sich die Menschen mit ihrer Begierde, verkriechen sich im Laub, suchen Schutz hinter Ästen. Jäger, die wie Freischärler aussehen (Kostüme: Ingo Krügler), werden zu Triebtätern. Die aufgestaute Aggression entladen sie beim Holzhacken.

Die Männer bemalen sich mit dem Blut ihrer Opfer und schmieren sich mit Schlamm ein. Agathe (Ina Kringelborn) und Ännchen (Julia Giebel) kichern nervös oder machen sich über den Männlichkeitskult lustig. Das Gießen der Kugeln in der Wolfsschlucht verkommt zum blutigen Ritual. Nachdem Max den Pakt mit dem Teufel eingeht, wird er zum Höhlenbewohner. Wie in Stanley Kubricks Anfangsszene zu „2001 - Odyssee im Weltraum“ huldigt er nun, halb Mensch, halb Affe, der rohen Gewalt.

In seinem „psychologischen Thriller“, wie Bieito die Produktion angekündigt hatte, schrammt der Regisseur am Klischee vorbei. Was naheliegend erscheint, wirkt abgedroschen. Dennoch lässt er seinen Darstellern viel Platz für den Wahnsinn. Vor allem Vincent Wolfsteiner als Max überzeugt als Prahlemann und Verlierer - den ganzen dritten Akt übersteht er als Nackter. Auch stimmlich gehören die Männer zu den starken Figuren - vor allem Christoph Späth als Kilian, Hans-Peter Scheidegger als Kuno und Günter Papendell als Ottokar.

Nachdem Agathe, getroffen von der siebten Kugel, zu Boden sinkt, droht Max die Verbannung. Bieito versagt der Oper das Happy End des Originals. Der Eremit (Alexey Tihomirov) bittet vergeblich um Gnade für Max. Zusammen mit dem Schützen wird der Heilsbringer von der Männermeute hingerichtet. Und zuletzt stirbt auch Agathe in diesem Bürgerkrieg aller gegen alle.

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