Oper: Alle wollen Anna Netrebko hören

La Netrebko bei den Salzburger Festspielen: Der Jubel über ihre „Mimi“ ist schon vorher sicher, doch das tiefe Gefühl fehlt.

Salzburg. Wenn Anna kommt, steht Salzburg Kopf. Nicht nur im feinen Festspielhaus, sondern auch auf dem Kapitelplatz hinter dem Dom reißen sich Netrebko-Fans um die besten Plätze — zum Public Viewing in lauer Sommernacht oder um die teuersten Karten im klimatisierten Tempel für 400 Euro.

Möglichst nah will jeder dem Megastar der Opernwelt sein, möglichst unverfälscht soll die einzigartig balsamische und makellose Stimme die Ohren umwehen. Die sieben Vorstellungen mit ihr als Mimi in der „Bohème“ sind längst ausverkauft — der ersten Puccini-Oper bei den Festspielen überhaupt. Die Hotelzimmer sind alle belegt, einige sogar dekoriert mit Netrebko-Fotos. Der Schwarzmarkt bietet Bohème-Karten für 900 Euro an. Doch sollen seit gestern auch Fälschungen verschachert werden.

Alle wollen Anna hören. Vor zehn Jahren begann hier ihr kometenhafter Aufstieg. 2002 wurde sie als Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ entdeckt, es folgten „Traviata“, die Susanna in „Figaros Hochzeit“ etc. . . Heute übersteigen allein ihre Werbeeinnahmen für Schmuck und Textil-Labels die Jahresgagen von Ensemblesängern in Stadttheatern um ein Vielfaches.

Egal, was sie singt, die Häuser sind ausverkauft. Anna lässt die Kassen klingeln. Doch zu Kopf ist ihr der Erfolg nicht gestiegen: Wenn sie ungeschminkt durch Salzburgs Boutiquen bummelt und ein Fan sie erkennt, wimmelt Anna niemanden ab, gibt Autogramme, auch auf Schmierzettel.

Ihrer Stimme fehlt zwar das unverwechselbare Timbre, das beim ersten Ton Legenden wie die Callas erkennbar macht. Doch gibt es heute nur wenige Soprane, die über eine derartige Strahlkraft, so viel Schmelz in den Höhen und so viel sinnliche Tiefe verfügen. All das setzt sie mit 40 Jahren als Mimi so verschwenderisch ein wie eh und je.

Begeisterung, Jubel und zehnminütigen Applaus erntet sie am Ende. Allerdings rührt sie als sterbende Mimi niemanden zu Tränen. Nicht weil sie gerne Erdnuss-Butter-Toast isst und deshalb nicht wie eine an Schwindsucht sterbende Diva ausschaut. Paradoxerweise, weil ihr das Singen so wenig Mühe bereitet, und ärgerlicherweise, weil Regisseur Damiano Michieletto ihr zwar für die TV-Übertragung ein Tatoo auf den Hals klebt, aber auf Personenführung leider verzichtet.

Der Italiener setzt auf plakative moderne Bilder wie Müll- und Matratzenberge in einer Studenten-WG und vergrößerte Pariser Straßenkarten mit Legohäusern.

Anrührend und mitreißend aber Darstellung und Stimme von Mimis Liebhaber Rodolfo: Der polnische Tenor Piotr Beczala mit seinem natürlich strömenden Belcanto-Tenor überzeugt als Mann, der an der unglücklichen Liebe fast zugrunde geht.

Auf Festspiel-Niveau auch der italienische Bariton Massimi Cavalletti und besonders die Wiener Philharmoniker. Maestro Daniele Gatti entzündet einen grell farbigen Puccini-Sound. Schnell elektrisierend und aufgeheizt — so wie die derzeitigen Temperaturen an der Salzach.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Liebe und Hass in der Vorstadt
Peter Kurth und Peter Schneider ermitteln im „Polizeiruf“ nach einem Kindsmord in Halle/Saale Liebe und Hass in der Vorstadt
Zum Thema
Aus dem Ressort