Videokunst lotet Grenzen aus

Filmische Arbeiten gehören heute zum Kanon etablierter Kunst.

Düsseldorf. Videokunst — das klingt heute schon fast altmodisch. Doch gemessen an den üblichen Kunstzeiträumen ist sie ganz jung. Erst in den 1960er begannen Künstler wie Nam June Paik (1932 — 2006) mit der damals neuen Technik zu experimentieren. Mit der Computer- und Digitaltechnik entwickelte sich die „Videokunst“ rasend schnell. Videobänder wie vor 40 Jahren gibt es längst nicht mehr. Experten sprechen heute von „Medienkunst“ oder „zeitbasierter Kunst“.

Große Museen tragen der wachsenden Bedeutung der Videokunst Rechnung, wie etwa das Haus der Kunst in München oder das K21 in Düsseldorf. In der Dependance der Kunstsammlung NRW wird derzeit bereits der dritte Teil der Übersicht „Big Picture“ mit Videoarbeiten aus dem Bestand der Kunstsammlung präsentiert. Mehr als 30 000 Besucher haben jeweils die ersten beiden Teile des musealen Video-Projekts gesehen.

Auf der anderen Seite des Rheins hat die private Sammlerin Julia Stoschek in einer umgebauten Fabrikhalle rund 350 Videoarbeiten von Marina Abramovic bis Christoph Schlingensief zusammengeführt und sich in der Kunstszene damit einen Namen gemacht.

„Jetzt ist eine Generation von Künstlern am Werk, deren ganzes Bildempfinden stark von Kino und Fernsehen geprägt ist“, sagt die Kuratorin Doris Krystof, die seit Jahren für die Kunstsammlung NRW Videokunst sichtet. Die Künstler erkunden Grenzgebiete zu Installationen, Konzeptkunst und Performance. „Es geht nicht mehr darum, dass man ein Metier besonders gut kann“, sagt Krystof. „Es geht oft mehr um Konzepte und Ideen.“

Der US-Künstler Tony Oursler zum Beispiel schuf eine technisch ausgeklügelte dreidimensionale „kinematographische Installation“, indem er das Gesicht einer Schauspielerin auf 25 aufgereihte Fiberglas-Kugeln projizierte. Auf jeder Kugel erscheint das Gesicht in einer anderen Verfassung, redet, schreit, kichert, weint.

Julia Stoschek beschreibt die Faszination für Videokunst so: „Was mich begeistert, ist die syn-ästhetische Erfahrung, die von einer flüchtigen Beobachtung bis hin zur komplexen Interaktion reichen kann.“ Die neuen Medien böten den Künstlern eine große Bandbreite bei der visuellen Umsetzung komplexer Themen. Deshalb nehme die Videokunst mittlerweile einen großen Stellenwert ein und werde „nicht mehr ganz so stiefkindlich behandelt“ wie noch vor zehn Jahren.

Gängige Handelsware auf Auktionen sind Videos aber nicht. Die meisten Sammler hängen sich lieber ein Gemälde an die Wand, anstatt das Wohnzimmer zum Aufführungsort für Videokunst umzufunktionieren. Dennoch gibt es einen Markt und Galerien für Videokunst. „Heute kauft man oft eine Festplatte oder einen USB-Stick und eine Anleitung des Künstlers“, so Krystof.

Wie ein Gruß aus einem vergangenen Zeitalter wirkt dagegen Nam June Paiks „TV-Garden“ von 1974 im K21. Wie große Blüten lugen die Fernseher zwischen exotischen Grünpflanzen hervor. „Das ist echte Videokunstgeschichte“, sagt Krystof. Paiks Fernsehgarten braucht für sein Überleben aber auch besondere Pflege: Nachts ist das Licht für die Pflanzen an, und ständig müssen sie gegossen werden.

Serie: Begleitend zur Documenta in Kassel beleuchten wir die zeitgenössische Kunst in Analysen und Interviews. Als nächstes sind ein Porträt des Kunstberaters Helge Achenbach sowie Hintergründe über die neue Ernsthaftigkeit in der Malerei geplant.

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