Walser stellt sich die Gretchenfrage

Der Schriftsteller reflektiert, warum wir Religion brauchen.

Ein bisschen hat es ihn schon gewurmt. Immer wieder wurde in den Besprechungen des Romans „Muttersohn“ seine Hinwendung zum Glauben „mehr oder weniger freundlich“ mit dem Alter in Verbindung gebracht. „So, als sei ich jetzt halt so weit.“ Das mochte Martin Walser nicht so stehen lassen. Kurz vor seinem 85. Geburtstag am 24. März erscheint daher heute sein Aufsatz „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“. Ein Büchlein mit gewichtigem Inhalt, stellt sich der Großschriftsteller darin doch selbst die Gretchenfrage: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“

Herausgekommen ist ein brennendes Bekenntnis zu dem evangelischen Theologen Karl Barth (1886-1968), diesem „Abräumer“, so Walser. Dessen „Buch ist die praktizierte Zerstörung der Kulturkulisse, die uns vergessen macht, dass Rechtfertigung einmal unser Bedürfnis war. Übrig geblieben ist das Rechthabenmüssen“. Denn gerechtfertigt zu sein, war laut Walser einmal das Wichtigste. Staaten legitimieren sich durch Gesetze, Regierungen durch Wahlen. Aber der Einzelne?

Den Schweizer Barth sieht er in der Traditionslinie von Paulus, Augustinus, Calvin und natürlich in der Luthers, demzufolge „eine Sehnsucht, wenn sie nur groß genug ist, schon nach Erfüllung schmeckt“. Religion also nicht, weil da wirklich etwas Göttliches wäre, sondern nur, wie Martin Walser es ausdrückt, „weil wir, was ist und wie es ist, nicht bewegungslos ertragen“.

Als Beweis dafür führt er seine Kollegen Franz Kafka, Robert Walser, Jean Paul oder Dostojewski an, die allesamt ohne einen Glauben und damit ohne Rechtfertigung im Leben kaputtgegangen seien. Sie waren „radikal in der Selbstverneinung“. Was sie zu großen Schriftstellern machte, ließ sie als Mensch scheitern.

Es steckt viel Wahres in diesem klugen Büchlein von Martin Walser, auch wenn wahrscheinlich nicht jeder seine letzte Kehre mitgehen möchte. Glauben nur, weil es ein Bedürfnis danach gibt und das Leben sonst keinen Sinn macht? Wohl dem, der sich damit zufriedengeben kann.

Martin Walser: „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“; Rowohlt, 112 Seiten, 14,95 Euro.

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