Wolfgang Herrndorf: Nach der dritten Operation fehlte die Kraft zum Weiterleben

Mit „Tschick“ stand Wolfgang Herrndorf monatelang auf den Bestsellerlisten. Jetzt ist der Autor im Alter von 48 Jahren gestorben.

Berlin. Als Wolfgang Herrndorf voriges Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, konnte er die Auszeichnung nicht mehr selbst entgegennehmen. Durch einen Freund ließ er ein afrikanisches Sprichwort übermitteln: „Die Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nächsten ist.“ Am Montag ist der Autor, der an einem Gehirntumor litt, mit 48 gestorben.

Er hatte drei Gehirnoperationen, zwei Bestrahlungen und drei Chemos im Kampf gegen den Krebs hinter sich. Doch er sei nicht an Krebs gestorben — schrieb Dienstag Weggefährtin und Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig auf Twitter. „Er hat sich gestern in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“

2010 hatte der gebürtige Hamburger mit seinem Roman „Tschick“ den Überraschungserfolg des Jahres gelandet. Das Buch stand monatelang auf den Bestsellerlisten, erhielt den Deutschen Jugendliteraturpreis und hat sich mehr als eine Million mal verkauft. Die Lada-Fahrt der beiden Freunde Maik und Andrej quer durch Ostdeutschland rührte viele Leser ans Herz.

Nur wenige Monate vor dem Druck des Romans wurde bei Herrndorf ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert. Prognose: nicht heilbar. Seither gab er in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ Auskunft über sein Leben mit dem Tod. Im März 2010 begonnen, ist das Internet-Tagebuch ein ebenso erschütterndes wie bitter-komisches Dokument von Angst und Überlebenskampf. „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem“, schreibt er zu Beginn. Doch so soll es nicht kommen. Erst eine OP, dann eine zweite, eine dritte.

Wider alles Erwarten bringt er trotzdem auch seinen nächsten Roman „Sand“ zu Ende, ein brillantes Vexierspiel um Selbstsuche und Tod. Der großartige Agententhriller Wüste trägt ihm 2012 den Leipziger Buchpreis, später eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis ein.

Dabei hatte Herrndorf ursprünglich gar nicht Schriftsteller werden wollen. Am 12. Juni 1965 in Hamburg geboren und in einem „sehr kleinbürgerlichen Haushalt“ ohne Literatur aufgewachsen, hatte er Kunst studiert und in Berlin als Illustrator gearbeitet. Durch einen Verlagsjob kam er zufällig ans Schreiben.

Seit seiner Diagnose lebte Herrndorf zurückgezogen in Berlin. „Keine Anfragen, keine Interviews, keine Lesungen, keine Ausnahmen“, schrieb er im Blog. Nur die Freunde, die Lebensgefährtin und die Arbeit gaben seinem Leben Struktur. Die letzten Einträge im Blog zeugen davon, wie der Sprachkünstler seine Worte verliert. „Ich bin nicht der Mann, der ich einmal war.“
wolfgang-herrndorf.de

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