Zuschauer als Drohnen-Piloten

Das Projekt „Rimini Protokoll“ verlegt das Lagezentrum des Weißen Hauses mitten in die Bochumer Turbinenhalle.

Bochum. Wer glaubt, er könne in der Bochumer Turbinenhalle gemütlich in einen Theatersessel sinken, der irrt. Denn in „Situation Rooms“ (auf deutsch etwa: Lagezentrum), der Eröffnungs-Produktion der Ruhrtriennale, muss sich der Zuschauer bewegen. 90 Minuten lang wird er getaktet durch Befehle und Bilder auf einem Tablett-PC, mit dem er von einem Raum in den nächsten läuft, treppauf treppab. Er stößt auf Flüchtlinge, Scharfschützen, Kartell-Gangster, Kriegsfotograf und vieles mehr.

Keine Schauspieler, sondern „Experten des Alltags“, wie in fast allen Doku-Stücken des Performance-Projektes Rimini-Protokoll, treten in Erscheinung. Das innovativ originelle Autoren-Regie-Team von Helgard Haug, Stefan Jaegi und Daniel Wetzel lässt die Figuren in „Situation Rooms“ nicht real, sondern virtuell auftreten — und mit dem Zuschauer kommunizieren.

In einem engen Zimmer erzählt eine Libyerin von ihrer Flucht auf einem Boot mit Kindern und vom Leben in einem überfüllten Übergangsheim. Es riecht nach Roter-Bete-Suppe, die auf einer Herdplatte köchelt. Sieben Minuten verbringt der Zuschauer in der Koje, hört Kinder schreien und wird aufgefordert, die Suppe zu löffeln, bevor er im nächsten Raum landet.

Ausgangspunkt und Zentrum ist der „Situation Room“ im Weißen Haus, in dem US-Präsident Obama und sein Beraterstab die Verfolgung und Tötung von Osama Bin Laden steuern. Hautnah durchlebt der Zuschauer die extremen Gefühlsschwankungen der an Kriegen beteiligten Gruppen, schlüpft in verschiedene Rollen, hört die Bekenntnisse eines Sportschützen, eines Kindersoldaten im Kongo oder die eines technikbegeisterten Schweizer Ingenieurs, der früher Waschmaschinen, heute Präzisionswaffen konstruiert. Keiner von ihnen kann sich ein Leben ohne Waffen vorstellen.

Eine Erkenntnis, die erschreckt, zumal in den meisten Krisengebieten Waffen aus Deutschland benutzt werden. Die Wirkung entsteht für die pro Gang 20 zugelassenen Zuschauer durch eine logistische Meisterleistung und eine ausgeklügelte Zuschauer-Lenkung. Und dank der Recherche von Rimini-Protokoll, die sich erneut von traditionellen Guckkasten-Inszenierungen weit entfernen und ihrem Ziel treu bleiben, der Erweiterung des Theaterbegriffs.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Unwiderstehliche Grusel-Revue
Acht Schauspiel-Talente begeistern im Düsseldorfer Doppelstück „Das Sparschwein/Die Kontrakte des Kaufmanns“ Unwiderstehliche Grusel-Revue
Zum Thema
Kommissar Henry Koitzsch (Peter Kurth, M.)
Liebe und Hass in der Vorstadt
Peter Kurth und Peter Schneider ermitteln im „Polizeiruf“ nach einem Kindsmord in Halle/SaaleLiebe und Hass in der Vorstadt
Aus dem Ressort