Ein Urteil über die willigen Vollstrecker

Vier Jahre Haft für die 300 000-fache Beihilfe zum Mord

Der US-Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen sorgte 1996 für eine wütende Debatte in Deutschland. In seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ stellte der Amerikaner die These auf, dass viele Deutsche, nicht nur Nazis, sich allzu gern und aus freien Stücken am Holocaust, also der von Deutschland fabrikmäßig geplanten und ausgeführten Vernichtung der europäischen Juden, beteiligt haben. Am Beispiel einer Polizeieinheit belegt Goldhagen, dass die Mörder ihr Werk übereifrig und mit Vernichtungswillen erledigten — obwohl sie auch anders gekonnt hätten.

Das hätte wohl auch Oskar Gröning, der am Mittwoch wegen der Beihilfe zu 300 000 Morden im Konzentrationslager Auschwitz zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Eine andere Verwendung oder gar eine Versetzung an die Front kam für den SS-Mann nicht infrage. Gröning hat sich aus Sicht des Lüneburger Gerichts ohne Zwang dazu entschieden, an einem Verbrechen teilzunehmen, dessen monströse Ausmaße er zumindest hätte ahnen können. Mit vier Jahren Haft, die er vermutlich nicht antreten muss, ist der ehemalige KZ-Scherge, trotz seiner späten Reue, gut bedient.

Das Lüneburger Urteil, es beschließt vermutlich einen der letzten großen Holocaust-Prozesse, ist aber nicht wegen des Strafmaßes von Bedeutung, sondern wegen seiner Begründung. Anders als jahrzehntelang in deutschen Gerichten üblich, hat der Vorsitzende Richter Franz Kompisch dem „Buchhalter von Auschwitz“ nicht die konkrete Beihilfe bei einzelnen Mordtaten nachgewiesen. Allein Grönings freiwillige SS-Mitgliedschaft und seine Bereitschaft, an der Todesrampe Dienst zu schieben, machen ihn zu Hitlers willigem Vollstrecker. In 300 000 Fällen.

Wenn der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, mit Blick auf vergangene Prozesse von Versäumnissen der Justiz spricht, muss man ihm da wohl beschämt zustimmen. Von 6500 KZ-Wächtern aus Auschwitz sind in Deutschland seit den 60er Jahren nur 49 verurteilt worden. Richter Kompisch sagte am Mittwoch, man könne auch nach 70 Jahren Gerechtigkeit schaffen. Vier Jahre Haft für einen Greis schaffen das nicht; aber der erklärte Wille, auch die letzten noch lebenden NS-Täter vor Gericht zu bringen. Wohl an.

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