Viele Wahrheiten, viele Gegner

Zum Tod von Günter Grass

Kritisierte er Israel für sein atomares Potenzial, galt er als Antisemit. Schrieb er in „Der Butt“ (1977) über das Verhältnis von Mann und Frau, standen ihm die Feministinnen auf den Füßen. Wollte er die Wiedervereinigung durch eine langsame Annäherung beider Staaten ersetzt sehen, galt er als Verräter an der Heimat.

Günter Grass aber tat das, was man wohl tun muss, um als Moralist wahrgenommen zu werden: Er orientierte sich immer neu am Einzelnen, fand jeweils seine Wahrheit, die nicht immer zwingend in den vermeintlichen Kanon seines Lebens passen musste. Oder auch nicht in den Kanon derer, die ihn gerne vereinnahmen.

Das machte ihn streitbar, bisweilen eben auch nicht zu fassen. Wer gerade noch als Anhänger galt, konnte schon jetzt verprellt sein. In die Tiefe der Themen eintauchen und eine Haltung formulieren, die nicht immer vorhersehbar ist. Das Gegenteil von Gleichförmigkeit sein. Und sich damit auch vom Ideologischen ein gutes Stück entfernen — das war Grass’ Sache. Die Wahrheit, so formulierte er in seiner Rede als Nobelpreisträger 1999, existiere „ohnehin nur im Plural“.

Das war die Maxime des Störrischen, der über seine Lust an der Provokation so viele Gegner sammelte, dass darüber sein herausragendes literarisches Werk viel zu kurz kommt. Auch das ist eine Pointe seines Lebens: Die deutschen Literaturkritiker, allen voran Marcel Reich-Ranicki, urteilten über sein Werk wohl nicht frei von ihrem Urteil über Grass als Person.

So ist Grass auch ein gutes Beispiel für eine andere Frage: Ob einer, der selbst einen Fehler gemacht hat, als moralische Instanz noch funktionieren kann. Die späte Beichte seines Eintritts in die Waffen-SS hat die Bewertung seiner Lebensleistung dramatisch verschoben. Kann einer, der seine historische Wahrheit so lange verschwiegen hat, als Geschichtsdeuter auftreten? Das hat mit Glaubwürdigkeit und wohl auch mit Demut zu tun, Werte, die Grass in der Folge allzu gern abgesprochen wurden. So wird er in Erinnerung bleiben als die vielleicht streitbarste moralische Instanz dieser Republik, als „Splitter im Auge“, der er sein wollte. Viele von denen, die gehört werden, gibt es nicht mehr.

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