Big-Data-Experte Mayer-Schönberger: „Der freie Wille steht auf dem Spiel“

Köln. Daten können die Welt verbessern, sagt der österreichische Jurist Viktor Mayer-Schönberger. Der Professor am Internet-Institut der Uni Oxford, kritisiert aber, dass Geheimdienste Daten missbrauchen.

Ein differenziertes Bild stellt er in seinem neuen Buch „Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird“ dar. Wir trafen Mayer-Schönberger in Köln zu einem Gespräch über Nutzen und Risiken von Daten.

Herr Professor Mayer-Schönberger, was ist Big Data?

Viktor Mayer-Schönberger: Big Data ist die Fähigkeit, aus einer großen Menge an Daten Einsichten der Wirklichkeit zu gewinnen, die wir aus einer kleinen Menge an Daten nicht gewinnen können. Tatsächlich verwenden wir schon täglich Big Data, beispielsweise wenn man die Google-Suche nutzt.

Seit wann stehen uns diese großen Datenmengen digital zur Verfügung?
Mayer-Schönberger: In der Vergangenheit mussten wir die Wirklichkeit dadurch verstehen, dass wir wenige Daten gesammelt haben. Weil das Sammeln von Daten enorm aufwendig und kostenintensiv war. Wir haben unser ganzes Verständnis der Welt darauf ausgelegt, aus dem Wenigsten die meiste Einsicht zu gewinnen. Demoskopen beispielsweise fragen 1200 Menschen nach ihrem Wahlverhalten und rechnen das auf ein ganzes Land hoch. Aber das ist natürlich nicht optimal; jede derartige Hochrechnung ist eine statistische Abkürzung. Es fehlt die Detailhaftigkeit und die Möglichkeit, daraus neue Einsichten zu gewinnen.

Und darin sehen Sie die Chance von Big Data?

Mayer-Schönberger: Big Data kann die Welt optimieren, aber das hängt davon ab, wie wir es einsetzen. Ich nenne ein Beispiel: Eine Ärztin in Toronto nutzt Big Data, um Frühchen zu helfen. Frühgeborene sind sehr anfällig für Infektionen. Wenn man bei ihnen eine Infektion erkennt, ist es oft schon zu spät. Die Ärztin hat die Vitalfunktionen der Kinder rund um die Uhr aufgezeichnet und untersucht - und hat ein Muster erkannt: Nun kann sie 24 Stunden bevor sich erste Symptome einstellen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersehen, dass eine Infektion beginnt. Und seltsamerweise ist das Muster nicht, dass die Vitalfunktionen verrückt spielen, sondern, dass sie sich stabilisieren. Wer hätte das gedacht?

Daten können aber den Grund dafür nicht nennen oder?

Mayer-Schönberger: Man darf den Daten nicht mehr Bedeutung zugestehen, als sie haben. Big Data kann keine Ursachen erkennen. Nur das Was, aber nicht das Warum.

Ist das eine Schwäche?

Mayer-Schönberger: Auf den ersten Blick schon, weil wir Menschen immer die Ursachen von allem wissen wollen. Das gibt uns das Gefühl, die Welt zu verstehen. Obwohl manchmal die vermeintlich Ursache von etwas nicht die tatsächliche Ursache ist. Wenn ich etwa abends im Restaurant esse, und am nächsten Tag der Magen verdorben ist, dann führe ich das darauf zurück, obwohl das statistisch gesehen sehr unwahrscheinlich ist, eine „Lüge“. Big Data kann uns nicht erklären, warum Dinge so sind, wie sie sind. Es kann uns nur erklären, was die Dinge sind. Das ist ein Nachteil, aber immerhin kann es das Was richtig identifizieren. Diese Sicht auf die Wirklichkeit ist keine Lüge.

Sehen Sie in Big Data denn auch eine Gefahr?

Mayer-Schönberger: Ja, wir werden als Menschen immer vorhersehbarer. Anhand der Daten lässt sich ablesen, wie wir denken und wie wir in der Zukunft handeln werden. Das ist sehr beängstigend. Wir sehen das jetzt in der Diskussion um die NSA. Hier werden Daten genutzt, um zukünftiges Verhalten vorherzusehen. Es besteht die Gefahr, dass Menschen für etwas bestraft werden, das sie noch gar nicht getan haben - für etwas, was der Algorithmus vorhersagt, was sie tun werden. Wie beim Hollywood-Film Minority Report. Die Zukunft, die für uns offen und gestaltbar ist, kann plötzlich sehr vorherbestimmt werden. Wenn man etwa weiß, in welchem Job man am besten funktionieren kann, welche Entscheidungsfreiheit hat der Mensch dann noch? Hier müssen wir jetzt schon Freiräume für Menschen sichern, für Kreativität...

Und auch für Fehler?

Mayer-Schönberger: Ja, wenn die Datenanalyse sagt, dass ich aus Gesundheitsgründen Karotten essen sollte, will ich manchmal trotzdem Fleisch oder Schokolade essen dürfen. In einigen Jahren könnte der Gesellschaftsdruck groß sein, sich so zu verhalten, wie es der Algorithmus empfiehlt.

Es geht also um nichts weniger als den freien Willen?

Mayer-Schönberger: Genau, der freie Wille steht auf dem Spiel. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, um die menschliche Handlungsfreiheit zu schützen. Ansonsten könnten wir verlockt sein, durch Big Data diese zutiefst menschliche Eigenschaft zu beschneiden. Wir müssen Grundrechte für die Big-Data-Zeit neu denken, damit es nicht zu einer Daten-Diktatur kommt. Es ist deshalb besonders wichtig zu regeln, wer Zugriff auf die Daten hat, wer den wirtschaftlichen Nutzen haben darf. Daten sind das neue Gold, und während natürliche Goldquellen versiegen, können Daten immer wieder genutzt werden.

Werden zurzeit denn genug Daten gesammelt?

Mayer-Schönberger: Es werden nie genug Daten gesammelt, aber etwa Smartphones sind schon jetzt riesige Datenplattformen. Das iPhone zeichnet auf, wo wir sind. Über den Kopfhörer lässt sich die Herzfrequenz, durch einen Sensor die Raumtemperatur ermitteln. Auch Amazon merkt sich jedes Produkt, dass man ansieht. Im Moment gibt es eine große Skepsis besonders in Europa. Das bedeutet auch, dass wichtige Vorteile von Big Data nicht genutzt werden etwa im Bereich der Medizin, Wirtschaft und Bildung. Das führt dazu, dass wir dort schlechtere Entscheidungen treffen. Doch es wird einen Gesinnungswandel geben.

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