Kathrin Passig und Sascha Lobo räsonieren über die Netzgesellschaft

Berlin (dpa) - Die Frage „Technik - Fluch oder Segen?“ ist so alt wie die Dampfmaschine. Der Blogger Sascha Lobo und die Schriftstellerin Kathrin Passig haben die nie beantwortete Frage jetzt fürs Internet neu gestellt.

Sie holen weit aus, können aber erwartungsgemäß ebenfalls keine Antwort geben.

Dafür bietet ihr jetzt erschienenes Buch eine Art Dialektik der Netzgesellschaft. Es gehört damit zu den besten Neuerscheinungen des Jahres zu einem vielfach strapazierten Thema.

Es liegt nicht an mangelnden Informationen oder dem fehlenden Verständnis, wenn die Meinungen über das Netz weit auseinandergehen. Es sind tiefe Interessenkonflikte, die dem Streit über die Umwälzungen, die das Internet in Gesellschaft und Alltag ausgelöst hat, zugrunde liegen. Dieser Ausgangsposition folgend, zieht das Buch mit dem Titel „Internet - Segen oder Fluch“ einen weiten Bogen: Zunächst stellen die Autoren die Missverständnisse dar, die von schiefen Metaphern gefördert werden.

Dann betrachten sie die Schwierigkeiten, mit denen schon jede Neuerung zu kämpfen hatte. Das Internet lässt kaum eine Branche unverändert: „Die Musikindustrie hat die Auseinandersetzung bereits hinter sich, in der Buchbranche beginnt sie gerade erst.“ Veränderungen machen Angst, in vielen Fällen durchaus begründet.

„Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord“, heißt es in einem von den Autoren zitierten Flugblatt aus dem Jahr 1929, in dem Orchestermusiker um ihre Aufträge für die Begleitung von Stummfilmen bangen. Der historische Blick ist die große Stärke dieses Buchs. Ja, das Internet macht alles neu - aber das haben auch schon der Buchdruck, die Eisenbahn und das allgemeine Wahlrecht getan.

Auch die Informationsflut ist nicht neu, wie die Autoren am Beispiel der Botanik des 16. Jahrhunderts aufzeigen, als die Wissenschaft noch keine einheitliche Taxonomie, also kein sinnvolles System der einheitlichen Benennung von Pflanzen kannte. So wie wir heute noch kein Modell haben, um all die Daten im Netz sortieren zu können. Daher sei einstweilen das Ignorieren von Informationen ebenso wichtig wie die „Fähigkeit, Informationsströme entspannt an sich vorbeiziehen zu lassen“.

Das Buch beklagt, dass der nötige Diskurs über das Internet und seine Bedeutung für unser Leben „ritualisiert und erstarrt“ sei. Es verspricht keine Lösungen, will aber mehr Lebendigkeit in die Debatte bringen. „Internet - Segen oder Fluch“ ist kein Buch für die flüchtige Lektüre. Sein Stil zwingt die Leser zum Nachdenken, weil ihnen von den Autoren auch etwas zugemutet wird.

Das fängt an mit der Aufforderung, den Hang zum Schwarz-Weiß-Denken zu überwinden. Die Autoren teilen die Menschen und ihren Blick aufs Netz zwar in „Optimisten“ und „Skeptiker“ auf, werben aber dafür, die Werte der jeweils anderen ernst zu nehmen und sich selbst kritisch zu betrachten. „Auch netzkompetente, sich für mündig haltende Bürger sind anfällig für verschwörungstheoretisches Denken.“

Mehr Fragen als Antworten bestimmen die Ausführungen des Autorenduos zur Einflussnahme des Netzes auf die Politik, auf das gesellschaftliche Zusammenleben, zur Zukunft der Privatsphäre. Ja, das Netz gebe allen die Chance, sich öffentlich zu Wort zu melden. Nein, das ermöglicht nicht automatisch mehr Demokratie. Denn es seien vor allem „technisch und politisch versierte Menschen mit viel Zeit“, die das auch in vollem Umfang nutzten - und damit entstehe eine digitale Elite und die Gefahr einer „Demokratie der 200 000 meistverfolgten Twitterer“.

Etwas resigniert führen die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Passig und der nach eigenen Worten „industrienahe Netzkolumnist“ und „Möchtegern-Provokateur“ Lobo zum Schluss auf, was sie alles nicht behandelt haben. Die Frage nach Fluch oder Segen kann keine Antwort finden, schon gar keine rationale. Daher empfehlen die Autoren, dem Gott Shiva, der im Hinduismus für die schöpferische Zerstörung zuständig ist, auf dem Hausaltar „eine Kerze oder hin und wieder ein veraltetes Gadget zum Opfer zu bringen“.

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