Alten-WG ohne Grenzen

Eine Glasbrücke verbindet niederländisches Altenheim mit deutschem Pflegehaus.

Bocholt. Im äußersten Nordwesten des Münsterlandes, in Bocholt-Suderwick, weist ein deutsches Straßenschild mitten im Ort geradeaus in den "Hellweg", nach rechts geht es in die holländische "Kwikkelstraat". Zwischen den schmucken Backsteinhäusern von Suderwick und Dinxperlo verläuft die Grenze fast unsichtbar durch ein Wohngebiet.

Nun hat der Ort ein unübersehbares neues Projekt auf der Nahtstelle - das europaweit erste grenzüberschreitende Wohn- und Pflegehaus. Eine gläserne Brücke verbindet ein Altenheim auf der niederländischen mit einem gerade fertig gewordenen Pflegehaus auf der deutschen Seite. In der überbauten Brücke können sich die Bewohner in einer Taverne zum Kaffee treffen und aus luftiger Höhe den Ausblick auf beide Länder genießen. Im neuen "Bültenhaus" wohnen alte Menschen von hüben und drüben.

Für das Evangelische Johanneswerk aus Bielefeld als Bauherr ist das für 3,8 Millionen Euro errichtete Haus weit mehr als ein normales Altenheim. Es ist ein Wohnprojekt mit europaweitem Modellcharakter, gefördert von der Europäischen Union, mit zwei Besonderheiten: "Es ist ein grenzüberschreitendes Angebot und ein Angebot für den ländlichen Raum", berichtet Projektvorstand Helmut Dessecker.

In der alternden Gesellschaft sollen Senioren möglichst in ihrem Umfeld bleiben können, auch wenn sie gebrechlicher werden und mehr Hilfe benötigen - und zwar auch auf dem Land. "Die Bandbreite der Wohnformen wird zunehmen", sagt Dessecker, der nicht nur dieses Projekt leitet, sondern auch Pastor ist.

In Suderwick hat das Bielefelder Johanneswerk, einer der größten Träger diakonischer Einrichtungen in Europa, zwölf Mietwohnungen und eine Wohngemeinschaft mit neun Plätzen gebaut. Das Haus ist für Senioren aus beiden Ländern bestimmt, und auch das Pflegeteam ist binational, damit jeder der Bewohner die Hilfeleistungen bekommen kann, auf die er in seinem Gesundheitssystem Anspruch hat.

"Eine Frau aus Suderwick, die vor Jahren im niederländischen Altenheim gegenüber einziehen wollte, hat das Vorhaben eigentlich angestoßen", berichtet Dessecker. Denn die betagte Dame wollte zwar nur auf die andere Straßenseite ziehen - aber damit eben auch ins Ausland - unter Preisgabe der Rechte im deutschen Gesundheitssystem. Deshalb konnte die Seniorin damals nicht in das so nahe liegende Heim einziehen.

Schon vor dem offiziellen Start in dieser Woche waren bereits im August die ersten Schlüssel an die Bewohner übergeben worden. Die WG für Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf hat bislang neun Plätze. "Alle, die einziehen, haben einen Bezug zu Suderwick", so Dessecker über die besondere Verbundenheit mit dem im Grünen gelegenen Ort.

Sein Kollege Andreas Theisen ergänzt: "Man heiratet seit Generationen über die Grenze, die Verwandtschaft ist über beide Orte verstreut." Viele beherrschen beide Sprachen. Erst kürzlich hat sich bei Theisen eine - schon erwachsene - Enkelin aus Dinxperlo gemeldet. "Mit Oma geht es so nicht mehr", sagte die junge Frau über ihre auf der deutschen Straßenseite lebende Großmutter. Und dann kamen beide Frauen und informierten sich.

Grenzüberschreitende Erfahrungen hat der Projektleiter in den vergangenen fünf Jahren bei Bau und Planung laufend gemacht: "Wir haben hier immer die Addition beider Länder, vom Brandschutz bis zur Statik." Die Pläne wurden doppelt geprüft, die Optik der gläsernen Brücke solange verändert, bis sie reihum gefiel. In der Brücke bekommt die WG für Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf ihren Aufenthaltsraum. Der große Tisch steht dann quer über der Grenze und das ist kein Zufall. "Was hier versucht wird, ist etwas, was bislang nirgendwo stattgefunden hat", sagt Dessecker.

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