Berwick-upon-Tweed: Schottische Grenzgänger

Die Schotten streben nach mehr Selbstbestimmung. Und Berwick-upon-Tweed, die nördlichste Stadt Englands, wird damit einmal mehr zum umkämpften Ort. Ein Besuch.

Düsseldorf. Die Glocken läuten, Markthändler verpacken ihren Fisch unter schwarzen Regenwolken. Alltag in einem Ort, der auf den ersten Blick nichts gemein hat mit einem umkämpften Fort im Wilden Westen. Doch hier, bei der 12 000-Seelen-Gemeinde, verläuft Europas nächste Front. Wenn Schottland sich in zwei Jahren vom Königreich verabschiedet, ist England in Berwick zu Ende.

Will Derek Sharman Reisenden zeigen, warum Berwick-upon-Tweed ein Dorf mit zwei Seelen ist, dann nimmt er sie mit auf Meg’s Mount, eine alte Kanonenrampe mit Rundum-Blick. Von hier aus sieht man die Nordsee, den Fluss Tweed und die Felder, die einst als Kornkammer der Insel galten.

„Wer Kontrolle über Berwick hatte, der hatte Zentralschottland in der Hand“, erklärt er. Kaum ein Ort Europas war so hart umkämpft, 13 Mal hat er in seiner Geschichte zwischen England und Schottland die Seite gewechselt. „Heute ist Berwick ein gutes Beispiel dafür, wie eine kriegsgeplagte Stadt zusammenhält“, sagt Sharman. „Wir fühlen uns als Grenzstädter mit Doppel-Identität.“

Dass es lange keine Animositäten gab, liegt vor allem daran, dass die Grenze zwischen England und Schottland für Berwicker seit 1482 nur noch Lokal-Folklore ist. Firmen in Berwick treiben Handel auf beiden Seiten, Kinder queren die gedachte Linie tagtäglich auf dem Schulweg. Dass Berwick 2014 einmal mehr Englands letzter Posten an einer neuen Grenze werden könnte, lässt Sharman mit dem Kopf schütteln. „Mit dem Dorf würde es bergab gehen“, glaubt der Hobby-Historiker, „Feindseligkeit würde regieren.“

Im Landtag von Edinburgh arbeiten Politiker bereits parteiübergreifend an den Details für Tag X. Wie schnell kann Schottland eigene Botschaften im Ausland einrichten? Wer stellt das eigene Rentensystem auf die Beine? Strittigster Punkt derzeit: die konkrete Ausgestaltung von Nato- und EU-Mitgliedschaft.

Wen die Frage umtreibt, warum Bravehearts Erben in einer Welt, die zusammenwächst und Probleme global zu lösen versucht, auf Abgrenzung setzen, der muss nur von Englands nördlichstem Dorf in Schottlands südlichstes Dorf Eyemouth fahren und Umweltminister Paul Wheelhouse zuhören.

„Wir wollen selbst entscheiden, wie wir unsere Gesellschaft gestalten“, sagt er mit einem Seitenhieb auf die Politik, die in Westminster gemacht wird. Dazu gehöre etwa ein System guter öffentlicher Einrichtungen. Schottlands Interessen würden in London kaum berücksichtigt. „Unserer Fischereiflotte hat die EU-Blockadehaltung der konservativen Tories sogar direkt geschadet“, kritisiert Wheelhouse.

Eine Prise Selbstbestimmung hat Schottlands Regionalparlament der britischen Regierung zwar schon abgerungen: Medikamente sind kostenfrei, Senioren müssen ihren Altenheim-Aufenthalt nicht bezahlen, und Studenten werden die in England pro Jahr fälligen 12 000 Euro Studiengebühren erlassen.

Doch kleine Siege reichen den Abtrünnigen nicht. Die anglo-amerikanische Variante des Kapitalismus’, die lässig hingenommenen Unterschiede zwischen Arm und Reich südlich der Grenze, widerstrebt vielen Schotten zutiefst. Auch die Atomwaffen des Königreichs, komplett an der schottischen Westküste stationiert, sollen nach der Unabhängigkeit umgehend verschwinden.

Premier David Cameron hat die Fronten im Januar zusätzlich mit der Aussage zementiert, dass er entscheide, wie der Wortlaut des Referendums laute. Solche Gängelei ist Wasser auf die Mühlen der Separatisten: In den Tagen nach Camerons forschem Auftritt verzeichnete die Scottish National Party einen Mitgliederzuwachs von 20 Prozent. Je erfolgreicher die Tories 2014 dastehen, desto höher wird in Schottland die Unterstützung für ein „Ja“ zur Separation ausfallen.

Für Rumpf-Britannien wäre Schottlands Autonomie ein Desaster. 30 Prozent der Öl- und Gasvorräte des Landes liegen in schottischen Gewässern. Die Armee verlässt sich auf Rekruten. Und ob das Königreich seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat nach einem Bruch halten kann, steht in den Sternen.

Dennoch sind viele Briten mittlerweile bereit, die Schotten ziehen zu lassen. Ihr ewiges Nörgeln hat zu Abstumpfung und Trotz geführt. „In London würde ich keine 10 000 Demonstranten für die Union mit Schottland auf die Straße bekommen“, seufzt Rory Stewart. Er ist Abgeordneter für das Grenzgebiet im Westminster-Parlament. Und er ist der einzige Politiker Englands, der Schottland leidenschaftlich bekniet, nicht zu gehen. Er sieht eine Teilung als postmoderne Bankrott-Erklärung: „Die Essenz Großbritanniens, diese lebendige, kontrastreiche Gemeinschaft verschiedener Provinzen, wäre zerstört.“

In Berwick ist man über derart emotionale Plädoyers längst hinaus. Die Leute fragen schon, wie eine Trennung praktisch aussieht: „Müssen die Kinder einen Reisepass vorzeigen, wenn sie drüben die Schule besuchen?“ Die Unternehmenssteuer im neuen Staat soll günstiger sein. „Dann wandern die Firmen samt Jobs mit über die Grenze“, prophezeit Derek Sharman. Das quirlige Berwick — bald nur noch eine verlassene Wild-West-Siedlung?

Im Dorf flirten Rebellen mit einem anderen Szenario: Die Mehrheit will, dass Berwick zu Schottland überläuft. 60 Prozent fordern, dass die Gemeinde — dann zum 14. Mal in ihrer Geschichte — die Seite wechselt. Eine „Landnahme“, versicherte Schottlands Ministerpräsident Alex Salmond, sei jedoch nicht geplant: „Wir erheben keine territorialen Ansprüche gegenüber Nachbarn und Freunden.“

Die Siedlertrecks sind jedoch längst unterwegs. Viele Grenzstädter fahren nach Edinburgh statt nach Newcastle zum Einkaufen, weil die Schotten bessere Straßen haben. Englische Senioren kaufen Immobilien nördlich der Grenze, weil sie wissen, dass sie dort im Pflegefall gut versorgt sind. Das Willkommen in Schottland fällt immer ausgesprochen herzlich aus; und Westminster ist hier sehr, sehr weit weg.

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