Erster Weltkrieg: „Es geht direkt zur Schlachtbank“

Die Kriegsbegeisterung der Deutschen ist längst als Mythos entlarvt. Viele ahnten, dass eine Katastrophe bevorstand.

Erster Weltkrieg: „Es geht direkt zur Schlachtbank“
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Berlin. Siegesgewisse Soldaten winken aus den Waggons, die sie an die Front bringen. „Nach Paris, mich juckt die Säbelspitze“, haben sie auf die Türen geschrieben. Oder: „Weihnachten sind wir wieder da“. Vor dem Berliner Schloss ruft Kaiser Wilhelm II. zu einer begeisterten Menge: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Die Glocken läuten, vaterländische Lieder erklingen, Deutschland ist in diesem verhängnisvollen Sommer 1914 kriegsbegeistert: Doch diese Vorstellung, bis heute im historischen Bewusstsein der Deutschen verankert, ist ein Mythos.

„Längst schon hat die historische Forschung die vermeintliche Kriegsbegeisterung infrage gestellt“, schreibt der Historiker Tillmann Bendikowski. Ein alle Bevölkerungsschichten umfassendes „August-Erlebnis“, das die Nation bei Kriegsausbruch 1914 einte, habe es so nicht gegeben. „In der historischen Wirklichkeit waren die Reaktionen auf die Kriegsgefahr und den Beginn des Krieges sehr viel komplexer und widersprüchlicher.“

100 Jahre erster Weltkrieg - Bilder aus dem Stadtarchiv
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Das Bild einer rauschhaften, euphorisierenden und alle Schichten vereinenden Kriegsbegeisterung resultiere häufig aus dem Rückblick, schreibt der Historiker Jörn Leonhard. Die kaiserliche Kriegspropaganda tat ihr übriges. Zwar gab es viele „hurrapatriotische“ Versammlungen. Auch ein berühmtes Bild von einer Kundgebung auf dem Münchner Odeonsplatz zeigt jubelnde Menschen. Mitten unter ihnen: der 25-jährige Adolf Hitler.

Es gab aber auch, heute beinahe vergessen, massive Proteste: Tausende Menschen nahmen an Antikriegsdemonstrationen der SPD teil. Allerdings vollzieht die SPD-Führung dann, als der Krieg feststeht, eine Kehrtwende: Sie stimmt im Reichstag Kriegskrediten zu — der „Burgfrieden“ ist geboren.

In der Tat wird der Krieg in weiten Teilen Deutschlands als Verteidigungskrieg angesehen. „Man drückt uns das Schwert in die Hand“, sagt Kaiser Wilhelm II. in einer Rede vom Balkon des Berliner Schlosses. „Neider überall zwingen uns zur gerechten Verteidigung.“ Viele junge Deutsche melden sich freiwillig zum Kriegsdienst.

Vor allem konservativ-bürgerliche und akademische Kreise rüsten zur „geistigen Mobilmachung“. Deutschland habe „das Schwert gezogen gegen die Brutstätten schleichender Hinterhältigkeit“, sagt der Physiker Max Planck zu seinen Studenten.

Auch der Schriftsteller Thomas Mann begrüßt den Krieg zunächst. In seinem Aufsatz „Gedanken im Kriege“ spricht er von einem „Kulturkrieg“, bei dem es um Deutschlands Moral, seine Eigenständigkeit und Identität gehe: „Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden und eine ungeheure Hoffnung.“

Sein Bruder Heinrich, Autor des beißenden Romans „Der Untertan“, dagegen ist ein erbitterter Kriegsgegner. 1918 muss sich auch Thomas eingestehen: „Die Katastrophe und Weltniederlage ist da. Es ist auch die meine.“

Vor allem auf dem Land und bei den Arbeitern ist 1914 von einer Kriegsbegeisterung wenig zu spüren. Es überwiegen die Zukunftssorgen. „Das Volk denkt sehr real, und die Not liegt schwer auf den Menschen“, heißt es im Bericht eines Pfarrers über die Stimmung in Berlin Moabit. Der damals 17 Jahre alte Wilhelm Eildermann, kann bei der deutschen Mobilmachung keine Kriegsbegeisterung ausmachen: „Alle haben das Gefühl: Es geht direkt zur Schlachtbank.“

Es habe in diesem schicksalhaften Sommer 1914 keine dominierende Stimmung gegeben, wie Bendikowski resümiert. „Diese Wochen waren vielmehr von Ambivalenzen geprägt. Zwiespältig und zerrissen waren die Gefühle der Deutschen, widersprüchlich, oft sprunghaft und zuweilen unberechenbar.“ Es sei ein „Sommer der Extreme“ gewesen.

An der Front lässt das Grauen viele Soldaten schnell ernüchtern. Vor allem der Stellungskrieg im Westen wird zur sinnlosen Materialschlacht, Millionen Menschen sterben. Ein Student schreibt nach seinen ersten Schlachterfahrungen in sein Tagebuch: „Mit welcher Freude, welcher Lust bin ich hinausgezogen in den Kampf (?) Mit welcher Enttäuschung sitze ich hier, das Grauen im Herzen.“

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