Familie Genç lebt heute ohne einen Gedanken an Rache

Jahrestag: Die Stadt Solingen gedenkt des mörderischen Brandanschlages auf das Wohnhaus einer türkischen Familie vor 15 Jahren.

Solingen. Eine Anwohnerin zeigt auf die fünf in Blüte stehenden Kastanienbäume an der Unteren-Wernerstraße in Solingen. Auf diesem Grundstück ist in der Nacht zum Pfingstsamstag 1993 (29.Mai) das Wohnhaus der türkischen Großfamilie Genç in Flammen aufgegangen. "Den Brandanschlag dürfen wir nie vergessen", sagt die Frau. Fünf Mädchen und junge Frauen starben damals, mehrere weitere Familienmitglieder erlitten teils schwerste Brandverletzungen. Vier junge Männer aus der Skinhead-Szene, die zum Tatzeitpunkt zwischen 16 und 24 Jahre alt waren, hatten damals im Eingang des Hauses Feuer gelegt.

In dieser Woche gibt es in Solingen Gedenkveranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, die an den bislang folgenschwersten ausländerfeindlichen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik erinnern sollen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sprach gestern zur Verleihung des Genç-Preises an Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma und Kamil Kaplan (siehe Kasten). Schäuble bezeichnete den 29. Mai 1993 als Zäsur: Der Tag habe viele Menschen veranlasst, "sich für das Miteinander von Deutschen und Türken einzusetzen". Für Samstag haben verschiedene Gruppen zu einer Demonstration in der Innenstadt aufgerufen. Motto: "Rassismus und Neofaschismus bekämpfen".

Auch nach 15 Jahren überschattet die Katastrophe noch immer das Leben aller Betroffenen. Die Familie Genç hatte sich trotz ihres großen Schmerzes gegen jegliche Art von Rache eingesetzt. Sie dachte auch zu keiner Zeit daran, alles aufzugeben und Deutschland zu verlassen. Die Überlebenden wohnen und arbeiten weiter in Solingen.

Die Großfamilie klagte allerdings auf Schmerzensgeld für die drei Kinder, die den Anschlag mit schwersten Verbrennungen überlebt hatten. Die Täter mussten insgesamt fast 270 000 Mark zahlen, dazu für ein besonders schwer verletztes Opfer auch eine monatliche Rente. NRW-Integrationsminister Armin Laschet lobt die Familie für ihre "beispielhafte Haltung der Versöhnung gegenüber der Gesellschaft" und mahnte zugleich, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten und "uns jeden Tag aufs Neue für das friedliche Miteinander in unserem Land einzusetzen".

Die vier Attentäter, die schon wenige Tage nach dem Anschlag festgenommen wurden, waren im Oktober 2005 nach 120 Verhandlungstagen in einem Indizienprozess wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung zu Jugend- und Haftstrafen zwischen zehn und 15Jahren verurteilt worden. Alle vier sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Einige von ihnen wurden wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen, erhielten eine neue Chance und haben entweder ein Studium angefangen oder sind berufstätig.

Im Prozess hatte damals nur der älteste der Angeklagten, der damals 24 Jahre alte Markus G., ein Geständnis abgelegt und erklärt, ursprünglich hätten er und die anderen die Türken "nur erschrecken" wollen. Einer der vier verurteilten Täter, der schon damals der rechten Szene zugeordnet wurde, wurde nach der Verbüßung der zehnjährigen Jugendstrafe im Jahre 2005 erneut straffällig und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Als Mitglied einer rechtsradikalen Kameradschaft hatte er mehrfach bei einer rechten Kundgebung den Hitlergruß gezeigt.

Mevlüde Genç, die wenige Tage nach dem Attentat öffentlich zur Versöhnung zwischen Deutschen und Türken aufgerufen hatte, ist für ihre Haltung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. "Man kann, indem man etwas verbrennt, zerschlägt und zerstört nichts Gutes erreichen", hatte sie 1994 in dem Prozess gegen die Brandstifter vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht gesagt. Sie erhält eine kleine Rente und Arbeitslosenhilfe. Der Orden liegt in einer Vitrine im Wohnzimmer ihres neuen Hauses, das zum Teil von Spenden- und Versicherungsgeldern gebaut wurde und von Kameras überwacht wird. An der Brandstelle erinnert seit Jahren ein kleiner Gedenkstein an die Opfer des Anschlags, der damals weltweit für Entsetzen sorgte. "An dieser Stelle starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags Gürsün Ince, Hatice Henk, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç", heißt es auf dem Mahnstein.

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