Flüchtlinge: Mutterseelenallein im Asyl

Immer häufiger kommen Kinder ohne Eltern nach Deutschland. Allein in Düsseldorf leben bereits 80.

Düsseldorf. Das Leben eines Flüchtlingsjungen ist eigentlich ziemlich normal. Jedenfalls von außen betrachtet. Er hat ein Zimmer in einem Jugendwohnheim, ein Handy und ein paar Freunde.

Er bekommt ein bisschen Taschengeld und geht zur Schule. Was fehlt, ist der erste Teil seiner Geschichte. Der Teil, in dem er in einem anderen Land lebte, in einer anderen Sprache redete - und seine Familie hatte.

727 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr in Deutschland Asyl gesucht. In diesem Jahr sind es 772 - bisher. 80 leben in Düsseldorf, die meisten stammen aus Afrika.

Schlepper bringen sie für Geld über die Grenze - oder für Sex. Oft mit Papieren von Kindern, die ähnlich aussehen. In Deutschland angekommen, lassen sie die verängstigten Kinder allein. Ohne Papiere und Deutschkenntnisse. Irgendwann werden sie von der Polizei aufgegriffen.

Einer von ihnen heißt Endu. 18 sei er. Sagt er. Geboren in Sierra Leone, kam er mit 15 aus der Elfenbeinküste nach Deutschland. Seine Geschichte handelt von Bürgerkrieg, Verfolgung und dem Verlust seiner Eltern - zu schlimm, um erzählt zu werden. Seine Flucht ist ein Geheimnis, das er wie viele Flüchtlinge mit sich herumträgt und auch später kaum jemandem erzählen wird.

Doch beim Bundesamt für Migration muss er reden. Während Kinder in deutschen Gerichtsprozessen besonders geschützt sind, gibt es hier keine Rücksicht.

Endu muss von seiner Ankunft erzählen. Davon, wie er einige Tage draußen geschlafen, dass er keine Vorstellung von Düsseldorf hatte und kein Wort verstand. Nach einer Nacht in einem Heim der Stadt kommt Endu in eine betreute Wohngemeinschaft.

Wäre er über 16, müsste er in die Asylunterkunft für Erwachsene - ohne jede Betreuung, ohne Hilfe durch das Jugendamt. Das alles wusste Endu damals nicht. Sein Kopf war nur von Panik erfüllt: "Panik davor, dass ich wieder weg muss."

Endu bekam eine Gestattung. So heißt der Status, den Flüchtlinge zunächst haben, wenn sie nicht sofort wieder abgeschoben werden. Doch eine Gestattung ist nicht mehr als ein Funken Hoffnung.

Kein Aufenthaltstitel, sondern meist ein Aufschub bis zur Ablehnung des Asylantrags. Dieser Status ist für Flüchtlinge wie das Schulterzucken eines Beamten - nur einen Augenblick vom Kopfschütteln entfernt.

"Ich kenne das: Die Angst, dass es nicht weiter geht, dass ich zurück muss", sagt Endu. Wenn er spricht, passt seine monotone Stimme so gar nicht zu seinen Worten, die so voller Emotionen sind. "Ohne die Hilfe durch das Flüchtlingsszentrum hätte ich aufgegeben, hätte mich aufgegeben."

Gemeinsam mit dem Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge gelingt es Endu, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Begründung: Gefahr für Leib und Leben im Herkunftsland. Von Fachkräften wird er zudem als schwer traumatisiert eingestuft. "Ich hätte so gerne eine Familie, wie zu Hause", sagt er plötzlich völlig aus dem Zusammenhang heraus. Es ist das einzige Mal, das Endu von seiner Familie spricht.

"Der psychische Druck, der auf den Jugendlichen lastet, ist extrem", sagt Barbara Eßer vom Psychologischen Zentrum für Flüchtlinge. Dort bekommen aktuell 80 jugendliche Flüchtlinge Hilfe. "Wenn die oft hochmotivierten Jugendlichen Unterstützung und eine stabile Zukunftsperspektive erhalten, führt das oft zu Bildungskarrieren", sagt Eßer.

Wie bei Endu: Nachdem er zunächst auf der Hauptschule war, steht er nun kurz vor dem Abitur. "Ohne Betreuung hätte ich das nicht geschafft, ich wäre verloren gewesen. Wahrscheinlich hätte ich mich verloren", sagt Endu.

Seit drei Jahren lebt er jetzt in der WG der Stadt. Dort wird er weiterhin vom Jugendamt betreut. Bei der Frage danach, was er nach dem Abi machen will, überlegt er lange.

"Mein Herz schlägt für den Fußball und ich stecke täglich sehr viel Energie in das Leistungstraining. Daher weiß ich noch nicht, ob ich Profifußballer werden will oder doch lieber studiere", sagt er. "Doch einen Wunsch habe ich: Ich möchte irgendwann zurück nach Sierra Leone." Und dann sagt er noch leise: "Aber ich möchte auch überleben."

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