Hospiz: Das Leben vor dem Sterben

Prognose unheilbar. Sehnen Menschen dann den Tod herbei? Oder klammern sie sich an das Leben? Im Stuttgarter Hospiz St. Martin wohnen Gäste ohne Aussicht auf Heilung. Es wird gelacht, gelitten, gelebt. Und gestorben.

Das Gefühl, nicht alleine zu sein, ist wichtig: „Wir tun alles, damit das Sterben leichter wird. Aber wir tun nichts, um das Leben zu beenden“, sagt Hospizleiterin Angelika Daiker.

Das Gefühl, nicht alleine zu sein, ist wichtig: „Wir tun alles, damit das Sterben leichter wird. Aber wir tun nichts, um das Leben zu beenden“, sagt Hospizleiterin Angelika Daiker.

Foto: Sebastian Kahnert (dpa)

Stuttgart. Nur noch wenige Wochen. Das war die Prognose im Frühjahr. Jetzt stehen bunte Herbststräuße auf dem Fensterbrett. Aus ihrem Garten, den sie wahrscheinlich nicht wiedersehen wird. Frau K.* sitzt aufgerichtet im Bett, dirigiert mit leiser Stimme die Hand der Kunsttherapeutin.

Hospiz: Das Leben vor dem Sterben
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Gelbe und orangene Blumen entstehen. Um selbst die Kreide zu halten, fehlt der 68-Jährigen die Kraft. Die zierliche Frau wohnt seit April im Hospiz St. Martin in Stuttgart. Sie hat Krebs, ohne Aussicht auf Heilung.

Kommt da der Wunsch auf, zu sterben? Nein, sagt Frau K.. Ihre schlichte Antwort auf eine Gewissensfrage, die derzeit Politik, Kirche und Mediziner kontrovers diskutieren. Bis Mitte 2015 will der Bundestag über eine Reform der Sterbehilfe entscheiden. Es geht dabei um Selbstbestimmung am Lebensende, um das Verhalten von Ärzten und Betreuern oder um die Suche nach Rechtssicherheit. Und um die Frage, was passiert, wenn das Sterben unausweichlich ist.

Im Hospiz St. Martin gehört der Tod dazu. Das Haus ist ein moderner Bau mit hellen Räumen, großen Fenstern und farbigen Gardinen. Der klinische Geruch mancher Krankenhäuser fehlt. Die Atmosphäre wirkt nicht bedrückend, eher sind es die eigenen Gedanken. Jedes Jahr sterben etwa 100 Personen in der Einrichtung.

„Wir begleiten Menschen auf ihrer letzten Lebensetappe“, sagt Leiterin Angelika Daiker. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Hospizbewegung und führt das Haus St. Martin seit seiner Eröffnung 2007. Insgesamt gibt es acht Betten, leer stehen diese selten.

Bundesweit gibt es nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV) rund 200 stationäre Hospize und etwas mehr als 230 Palliativstationen in Krankenhäusern. Hinzu kommen etwa 1500 ambulante Hospizdienste. Das wichtigste Ziel sei, dass Menschen ihr Leben bis zum Schluss nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen führen können, sagt DHPV-Geschäftsführer Benno Bolze.

„Die Zeit des Sterbens ist kostbare Lebenszeit“, sagt auch Daiker. Dazu gehörten die ganz alltäglichen Dinge wie ein Stück Kuchen am Nachmittag, Musik oder ein Besuch auf der Dachterrasse. Und: Der Umgang mit dem nahen Tod sei für die Angehörigen oft schwieriger als für die Sterbenden selbst.

Günter Killer hat seine Frau im April verloren. Sie litt an Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer Krankheit, die zu Nervenzerstörungen und Muskellähmungen führt. Am Anfang habe ihm die Prognose ALS den Boden unter den Füßen weggezogen. „Meine Frau sagte irgendwann, das werde ich nicht aushalten, dann will ich in die Schweiz“, sagt Killer. In dem Moment habe er seine Werte neu überdenken müssen. Wäre das eine Möglichkeit, mit der er klarkäme? Am Ende entschied sich das Paar gegen Sterbehilfe im Ausland.

Die Tötung auf Verlangen ist zum Beispiel in den Niederlanden oder Belgien erlaubt, die Schweiz lässt eine Freitodbegleitung zu. Auch in Deutschland soll Sterbehilfe nun rechtlich neu geregelt werden. Der DHPV in Berlin lehnt dabei jegliche Form der gewerblichen oder organisierten Beihilfe zum Suizid ab. „Hinter dem Wunsch nach einer vorzeitigen Beendigung des Lebens stehen häufig ganz andere Gründe — die Angst vor Schmerzen, davor, der Apparatemedizin ausgeliefert zu sein oder anderen zur Last zu fallen“, sagt Bolze.

Angst hat Frau K. keine. Im Gegenteil. „Ich wünsche mir, dass ich gesund werde und wieder heim darf“, sagt die Schwarzwälderin. Wie ihre Enkel größer werden, das würde sie gerne erleben. Wahrscheinlich sei das nicht, sagen die Ärzte. Jeden Tag kommt einer ihrer beiden Söhne vorbei, manchmal auch Freunde.

„Das Gefühl, nicht allein zu sein, ist wichtig“, sagt die 68-Jährige. Früher habe sie öfter mit anderen Gästen im Aufenthaltsraum vor dem Zimmer gesessen und geredet. Viele der Frauen seien mittlerweile verstorben. Die Verlusterfahrung ist Teil des Alltags im Hospiz. Dennoch: Der Wunsch „gebt mir was, ich will nicht mehr“ sei selten, sagt Daiker. „Wir tun alles, damit das Sterben leichter wird. Aber wir tun nichts, um das Leben zu beenden“, sagt Daiker.

Im Vordergrund stehe das Leben. So feierte einmal eine Frau ihren „Einstand“ in dem Stuttgarter Haus mit Sekt, Lachshäppchen und Hütchen. Es wurde getanzt, gelacht. Zehn Tage später war sie tot. Manchmal, sagt Daiker, sei es schwer, in den Urlaub zu fahren und nicht zu wissen, wer danach noch da ist. Zeit bekommt im Hospiz eine andere Bedeutung.

„In der Ecke fehlt noch ein bisschen Blau“, sagt Frau K.. Die Therapeutin füllt das letzte Stück Himmel auf dem Bild aus, etwas Farbe tropft auf das Bett. Frau K. drückt ihre Hand. Lächeln. Fertig, fast. Datum und Unterschrift müssen noch unter das Gemälde, das gehört dazu. Was sie als nächstes malen will, weiß Frau K. nicht. „Man darf nicht so weit voraus denken.“

*Frau K. wollte ihren vollen Namen in der Reportage nicht genannt wissen. (Anm. d. Red.)

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