Kalifornien fürchtet sich vor dem Mega-Erdbeben

Mit einer großangelegten Übung bereitet sich Kalifornien diese Woche auf das nächste schwere Erdbeben vor. „The Big One“ ist laut Wissenschaftlern schon lange überfällig. Doch die Bürger zeigen bisher wenig Interesse — und die zuständigen Behörden sind vom Sparzwang bedroht.

Sacramento. Falls der Gouverneur anruft, soll bei der Kommission für Seismische Sicherheit niemand ins Stottern geraten. Auf zwei Seiten haben die Mitarbeiter vorsorglich schon mal alle Fakten zusammengetragen, die ihrer Meinung nach für den Erhalt ihrer Behörde sprechen. Denn in Sacramento fürchten die Wissenschaftler derzeit nicht nur Erdbeben, sondern auch finanzielle Erdstöße.

Weil der hoch verschuldete Staat sparen muss, könnten auch diejenigen betroffen sein, die einsturzgefährdete Gebäude ausfindig machen, an Tsunami-Auswirkungen forschen und das Thema in die Öffentlichkeit tragen sollen. Doch wozu der ganze Aufwand? Das fragen sich die Einwohner Kaliforniens, die mit ihrer bekannt lockeren Lebensweise die Sorgen der Seismologen momentan kaum teilen.

Von den rund 38 Millionen Einwohnern, die im bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat leben, haben sich bisher nur 8,5 Millionen zu einer Großübung angemeldet, bei der am 20. Oktober „The Big One“ trainiert werden soll — ein großes und längst überfälliges Erdbeben. Der Anteil der Privathaushalte, die mitmachen und sich zu einer bestimmten Uhrzeit unter ihrem Schreibtisch verkriechen, dürfte verschwindend gering sein. Die meisten Teilnehmer befinden sich in öffentlichen Gebäuden und in Schulen, in denen Kinder seit jeher das richtige Verhalten bei Erdbeben üben.

Kalifornien gilt deshalb als besonders gefährdet, weil der sogenannte San-Andreas-Graben mitten durch den Bundesstaat verläuft. Dort treffen zwei Kontinentalplatten aufeinander. Die entstehenden Spannungen entladen sich durch Erdbeben, bei denen in denen es immer wieder auch zu Todesopfern kommt.

Beim schwersten Beben der vergangenen Jahre mit einer Stärke von 6,9 starben im Oktober 1989 in San Francisco 63 Menschen, beim „Big One“ der Stärke 7,8 gab es dort 1906 bis zu 3000 Tote. Seither haben sich die Sicherheitsbestimmungen für neue Gebäude deutlich verschärft. Highway-Brücken, die bei zurückliegenden Beben oftmals einstürzten oder schwer beschädigt wurden, müssen auch starken Erdstößen standhalten können.

Bei Schulen und Krankenhäusern gelten besonders strenge Regeln. „Doch es gibt noch sehr viele alte Häuser, die ein schweres Erdbeben wahrscheinlich nicht überstehen“, sagt Richard McCarthy, der als Leiter der Kommission für Seismische Sicherheit die Regierung berät. Um für den Ernstfall vorbereitet zu sein, soll jeder Bewohner des Bundesstaates nach dem Willen der Kommission einen Notvorrat anlegen: Lebensmittel, Taschenlampen, Radios und Batterien, die für mindestens 72 Stunden ausreichen. Zurückliegende Katastrophen hätten gezeigt, dass es so lange dauern kann, bis die Wasser- und Stromversorgung sowie das Handynetz wieder funktionieren.

In einer massiven Informationskampagne informieren auch Feuerwehren, Polizeiwachen und Kommunen, was im Ernstfall zu tun ist: „Ruhig bleiben, unter einem Tisch Schutz suchen und auf keinen Fall panisch nach draußen rennen“, verrät eine Broschüre. „In der Realität ist aber genau das Gegenteil der Fall“, sagt Rick Adams, der in Los Gatos südlich von San Francisco wohnt. Das letzte große Erdbeben, das der 69-Jährige mitgemacht hat, liegt schon mehr als 20 Jahre zurück. „Ich war gerade im Einkaufszentrum, als es anfing. Natürlich sind alle sofort nach draußen gestürmt, weil sie es da für sicherer hielten.“

Dass ein Schreibtisch wirklich ein sicherer Ort ist, bezweifelt der Ingenieur, dessen Haus beim letzten Erdbeben dank neuer Bauweise kaum beschädigt wurde: „Wenn das Dach über einem zusammenkracht, hilft einem das auch nicht mehr weiter.“ Auch die Vorräte, die Kalifornier für den Notfall anlegen sollen, existieren bei Adams schon seit Jahren nicht mehr. „Nachdem die Mäuse angefangen hatten, daran zu fressen, habe ich irgendwann alles weggeworfen“, sagt er. „Es stimmt schon, dass man mit der Zeit ein wenig nachlässig wird.“

In der Schule sei seine Generation auf solche Naturkatastrophen nicht vorbereitet worden: „Wir haben nur gelernt, was man bei einem Atombombenangriff macht.“ Unbedarft gehen auch jüngere Leute, die in ihrem Leben noch kein einziges großes Erdbeben erlebt haben, mit der Gefahr um. „Wir haben wichtigere Probleme als ein Erdbeben, das vielleicht irgendwann einmal kommt“, sagt die 29-jährige Diana Straham, die mit ihrer Familie in der Kleinstadt Paso Robles lebt. „Der Staat sollte erst einmal seinen Haushalt sanieren.“

Angst vor einer Katastrophe wie im japanischen Fukushima, bei der im März auch ein Atomkraftwerk schwer beschädigt wurde, hat die Kalifornierin nicht. „Ich vertraue darauf, dass wir bei uns sicher sind.“ Diejenigen, die sich mit der Materie genauer befassen, finden solche Aussagen naiv. „In den flacher gelegenen Regionen sind Tsunamis die größte Gefahr“, warnt James Wheeler, der als Ranger im Redwood-Nationalpark an der Pazifikküste arbeitet. „In Japan ist das Warnnetz für Tsunamis viel höher entwickelt als bei uns, und trotzdem kam es zur Katastrophe.“ Vielen sei gar nicht bewusst, dass sie sofort in höheres Gelände flüchten müssen, wenn sich das Wasser nach einem Erdbeben zurückzieht.

Rund 400.000 Touristen kommen jährlich in den Nationalpark, der sich mehrere Kilometer an der Küste entlang zieht. Warnsirenen gibt es dort nur in den Städten. „Zum Glück“, sagt Wheeler, „überwiegt bei den meisten Besuchern die Neugier, wenn sie die Tsunami-Warnschilder am Straßenrand sehen. Dann kommen sie zu uns ins Besucherzentrum und fragen, was es damit auf sich hat.“

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