Schule für Circuskinder: Das Klassenzimmer rollt immer mit

Seit 20 Jahren gibt es die Schule für Zirkuskinder in NRW. Es gibt keine Noten, und niemand bleibt sitzen.

Schule für Circuskinder: Das Klassenzimmer rollt immer mit
Foto: dpa

Oberhausen. Letizia, Jenna, Angeli und Jamie leben an einem Ort, der Kinderherzen höherschlagen lässt. Sie sind Zirkuskinder. Akrobatik an Ringen hoch in der Luft ist Jennas Spezialität, die elfjährige Letizia kann Bauchtanz, beide Mädchen verzaubern Zuschauer mit akrobatischen Hula-Hoop-Reifennummern, und der neunjährige Jamie ist ein geborener Clown und Schlagzeuger. Mit dem traditionsreichen Zirkus Traber ziehen die vier Cousins und Cousinen durch die Lande, und das Besondere ist: Ihr Klassenzimmer rollt immer mit.

Bärbel Fritz ist Lehrerin in der Zirkusschule.

Bärbel Fritz ist Lehrerin in der Zirkusschule.

Foto: dpa

Denn pauken müssen auch Zirkuskinder. Doch wo kommt die Schule schon zu den Schülern? Die Schule des Artisten-Nachwuchses ist ein weißer Wohnwagen — mit Tischen und Stühlen wie in jeder normalen Schule auch. Der Wohnwagen wird vom Zirkus von Ort zu Ort mitgezogen. Den Schlüssel haben die Kinder.

Laptops stehen auf den Tischen, denn auch Unterricht online gehört zum Schulalltag. Zwei- bis dreimal die Woche kommen die Lehrer Bärbel Fritz (Foto) und Claudius Höschen in einem zu einer Minischule ausgebauten Kleinbus zum Zirkus, egal wo er gerade in Nordrhein-Westfalen gastiert.

In der „Schule für Circuskinder“ gibt es Noten erst im Abschlusszeugnis nach der 10. Klasse, niemand bleibt bis dahin sitzen, Unterrichtsbeginn ist um neun Uhr morgens. Das hört sich alles ziemlich verlockend an. Die Kinder lernen nach einem Bausteinprinzip.

„Sie können auch zwei bis drei Jahre länger lernen“, sagt Schulleiterin Annette Schwer. „Wenn sie mit 21 fertig sind, ist auch gut.“ Lehrerin Fritz sagt: „Wir haben die Chance, auf die Kinder einzugehen.“ Sie ist bereits seit der Gründung der Schule im Jahr 1994 dabei und unterrichtet seit 14 Jahren im Circus Traber. Die Kinder nennen sie „Fritzi“.

In diesem Monat feiert die „Schule für Circuskinder in NRW“, die von der Evangelischen Kirche im Rheinland getragen wird, ihr 20-jähriges Bestehen. Hier werden die Kinder bis zum mittleren Schulabschluss geführt; wer will, kann danach das „Abitur online“ über ein Weiterbildungskolleg machen. Das waren bisher nur wenige, doch es werden mehr. Vor zwei Jahren machten die ersten beiden Zirkuskinder, zwei Artistinnen des Zirkus Roncalli, das Abitur. Im nächsten Schuljahr büffeln drei Zirkuskinder für die Reifeprüfung.

Beim Leben zwischen Wohnwagen und Manege an immer anderen Orten mit wechselnden Schulen, Lehrern und Unterrichtsinhalten kam die Bildung für Zirkuskinder oft zu kurz. Heute meldeten die Ex—Schüler ihre Kinder aber schon nach der Geburt in der Zirkusschule an, sagt Schwer.

Zirkusse sind heute oft in Existenznot und müssen pfiffig sein, um zu überleben. Dennoch sieht Jennas Mutter Angelika Bauer viele Vorteile des Zirkuslebens: „Die Kinder wachsen freier auf und gehen offener mit Menschen um.“ Und: „Sie sind nie allein.“

Von der 81-jährigen Zirkuschefin und Uroma Amanda Traber bis zu den Enkeln und Urenkeln machen beim Circus Traber alle mit, dazu kommen Kamele, Pferde, Ziegen. Im Winter bezieht der Zirkus ein Quartier in Dormagen, dann drücken die Kinder in einer örtlichen Gesamtschule die Schulbank. Auch dort sind sie kleine Stars, haben viele Freunde, die sie im Sommer auch in die Zirkusvorstellungen einladen.

Dass die ersten Zirkuskinder Abitur machen, setze Maßstäbe und trage auch zum Ansehen der Zirkusse bei, sagt Schwer. Die Schule musste den Familien aber auch die Angst nehmen, dass die Kinder die Manege verlassen, wenn sie erst mal einen höheren Abschluss in der Tasche haben.

Beim Circus Traber wird nach der Schule für die Manege geprobt — „mindestens eine Stunde am Tag“, sagt Letizia. „Wir sind Artisten“, sagt Jenna selbstbewusst. Alle vier wollen beim Zirkus bleiben, wenn sie groß sind. Für Jamie ist klar: „Ich mache später meinen eigenen Zirkus auf.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort